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Neues Denken bei Ärzte gegen den Atomkrieg

■ In Moskau ging gestern die 7. Weltkonferenz der Ärzte gegen den Atomkrieg zu Ende / Die Streitfähigkeit des Kongresses hat sich verbessert / Um die Nutzung von Atomstrom wurde heftig gestritten / Der langjährige Kopräsident Tschasow trat von seinem Amt zurück

Aus Moskau Michael Dutschke

War es die dicke Wolkendecke oder „die grundsätzlich neue Art des Denkens“, die die sowjetischen Grenztruppen dazu bewog, den West–Ost–Flüchtling in seiner Privatmaschine auf dem Roten Platz landen zu lassen? Fest steht, daß der Kamikaze–Flieger, der am Vortag der 7. Weltkonferenz der IPPNW die Teilnehmer aus aller Welt vor dem Lenin–Mausoleum überraschte, nicht von der bundesdeutschen Delegation geschickt war. Die IPPNW (International Physicians for the Prevention of a Nuclear War), entstanden 1980 aus einer Gruppe von 70 nordamerikanischen Ärzten, wurde innerhalb von nur sieben Jahren zu einer 170.000 Mitglieder umfassenden Weltorganisation. Rund 3.000 von ihnen waren aus 60 Ländern der Erde nach Moskau gereist. Das Motto der Veranstaltung stammt von Albert Einstein: „Wir brauchen eine grundsätzlich neue Art des Denkens, wenn die Menschheit überleben soll.“ Themen der vier Tage währenden Vorträge, Diskussionen und Kolloquien waren, neben der internationalen Zusammenarbeit, die Einbeziehung der Dritten Welt in die Friedensarbeit und die Frage der zivilen Nutzung der Atomenergie. Von nicht geringerer Bedeutung war für die Teilnehmer die Erfahrung des Neuen Denkens in der sowjetischen Innenpolitik. Die Aufbruchstimmung färbte ab, ermöglichte Auseinandersetzungen, die in dieser Offenheit bislang selten waren. Minutenlangen Applaus erntete der Sowjetologe Stephen Cohen mit der Feststellung, es sei nicht weiter beschämend für die USA, einige Panzer weniger zu besitzen als die UdSSR, „weswegen wir uns als demokratische Amerikaner aber sehr, sehr schämen sollten, ist, daß wir die politische Initiative zur Abrüstung der Sowjetunion überlassen.“ Neues Denken bedeutet für ihn, im Zusammenleben der beiden Supermächte in politischen statt in militärischen Kategorien zu denken. Das beste Beispiel für militärisches Denken hatte zuvor sein Präsident geliefert, der es sich nicht hatte nehmen lassen, dem Weltkongreß der Ärzte eine Grußbotschaft zu senden, in der er sich nochmals dafür lobte, die Sowjets unter dem Druck seines Sternenkrieg–Projektes an den Verhandlungstisch gezwungen zu haben. Die Lehren aus Tschernobyl wurden, nach dem Kölner Kongreß im letzten Jahr, nun schon im zweiten Jahr diskutiert. In der Folge der Reaktorkatastrophe war eine organisierte medizinische Zusammenarbeit zustandegekommen, wie sie für die Gebiete der AIDS–Forschung und der weltweiten Bekämpfung von Mangelkrankheiten in Ländern der Dritten Welt vorbildlich sein könnte. Einigkeit herrschte unter den Ärzten darüber, daß ein solcher Unfall die äußerste Grenze medizinischer Beherrschbarkeit darstellt, die Katastrophenmedizin jedoch im Kriegsfall keinen Sinn mehr hätte. Über die Konsequenzen für die Stromerzeugung hatten die Gastgeber ganz andere Auffassungen als ihre westeuropäischen Kollegen. Altbekannte technokratische Argumentationsmuster unter der Prämisse eines stets steigenden Energiebedarfs waren vom Vorsitzenden der sowjetischen Strahlenschutzkommission, Leonid Ilyin, zu vernehmen. Gilt für die IPPNW im allgemeinen der Grundsatz der Einmischung, zog sich Ilyin, selbst IPPNW–Mitglied, bei diesem Thema mit Vorliebe auf sein Expertentum zurück und weigerte sich in der Diskussion mit dem Plenum, den Grenzwert für die radioaktive Belastung von Lebensmitteln zu benennen. Andere Aspekte brachte der wissenschaftliche Berater des indischen Premiers Rajif Gandhi, M.G.K. Menon, ein. Er hält Tschernobyl, verglichen mit der Chemiekatastrophe von Bhopal, die auf einen Schlag Tausenden das Leben kostete, für einen kleineren Unfall. Sein Land wolle auf den Atomstrom nicht verzichten. Es brauche ihn für die Bewässerung der Felder und die Säuberung des Trinkwassers, nicht für die Klimaanlagen. Als entschiedene Befürworterin des Ausstiegs war Mary Dunphy aus Irland geladen. Als Vorsitzende ihrer Sektion hat sie sich vor allem mit den Folgen der radioaktiven Belastung der irischen See durch das Plutoniumwerk Windscale/Sellarfield beschäftigt. Daß der Atomkraft–Streit in solcher Sachlichkeit und Offenheit geführt werden konnte, ist sicher das beste Kompliment, das den sowjetischen Organisatoren gemacht werden kann. Mit dem Moskauer Ärztekongreß trat Jewgenij I. Tschasow als Kopräsident des IPPNW zurück. Der 1929 in Kiew geborene Herzspezialist war seit Gründung der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges gemeinsam mit seinem nordamerikanischen Kollegen Bernard Lown charismatische Symbolfigur und Zugpferd des Ärzteverbandes und ist unter Gorbatschow zum sowjetischen Gesundheitsminister avanciert.

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