: „Die Realität in Kurdistan ist grausam“
■ PKK bekennt sich zu Massaker / Nationalistische Parolen in der Türkei / Aus Istanbul Ömer Seven
Letzte Zweifel an der Verantwortung für das Massaker am Wochenende hat die kurdische Guerillaorganisation PKK jetzt selbst ausgeräumt: Gegenüber der taz bestätigten Vertreter in der BRD, daß die PKK heute in Brüssel einer internationalen Presse ihre Beweggründe erläutern möchte. In der Türkei hat die Tat eine Woge des Nationalismus ausgelöst. Zunichte gemacht wurden dadurch erste Ansätze, das Kurdenproblem anzuerkennen und nach politischen Lösungsmöglichkeiten zu suchen.
„Sie haben uns verraten und verkauft“. Vier Tage nach dem Massaker an 30 Dorfmilizionären und deren Familienangehörigen in dem kurdischen Dorf Pinarcik bestimmt nationalistische Entrüstungsrhetorik das politische Leben in der Türkei. Verärgerung über eine in der vergangenen Woche vom Europäischen Parlament verabschiedete Resolution, in der die Türkei für den Genozid an den Armeniern 1915 verantwortlich gemacht wird, ist allerorten zu hören. Regierung wie Oppositionsparteien, Militärs wie Zivilisten reihen sich ein in einen nationalistischen Chor mit prägenden europafeindlichen Tönen. Seit gestern werden die Bot schafter der EG–Staaten einzeln ins türkische Außenministerium zitiert, um den offiziellen Protest der Türkei entgegenzunehmen. Man verlangt Revision der EG– Resolution, für deren Zustandekommen eine unheilige Allianz von Armeniern, Griechen und Kurden verantwortlich gemacht wird. Kurden– und armenierfreundliche Beschlüsse der Europäer seien es, die den Terror in der Türkei anheizten, und mit dem Massaker am Wochenende habe die EG–Resolution ihre erste Frucht getragen. Nicht die Ursachen für das Wirken der kurdischen Arbeiterpartei PKK und nicht die staatliche Repression in Kurdistan sind im Gespräch, sondern „die internationale Verschwörung mit dem Ziel, die Türkei in die Isolation zu führen“. Ganz in diesem Sinne war die im mittelanatolischen Sivas inszenierte Rede des Staatspräsidenten Evren am Montag. Tausende Zuhörer waren von der Präfektur mit eigens für Evrens Rede beschrifteten Transparenten, die die Resolution des Europaparlaments und das Massaker in Pinarcik verbanden, ausgerüstet worden. Mit den Rufen: „Europa - Mörder!“ wurde ihm Beifall gezollt. Originalton Evren: „Wir sind Mitglied der NATO. Die NATO ist gegründet worden, um die territoriale Einheit der Mitgliedsländer sicherzustellen. Und da kommen nun einige im Bündnis her und wollen uns Territorien entreißen und anderen geben. So eine Forderung stellt noch nicht einmal der Warschauer Pakt. Wir sollen in der NATO sein, aber nicht in der EG. So etwas geht nicht. Das liegt an ihrer anderen Religionszugehörigkeit, am Christentum. Die Mitgliedschaft der Türkei in der NATO muß überdacht werden.“ Evren hatte auch die Ziele der internationalen Verschwörung ausgemacht: „Bei uns gibt es keine kommunistische Partei, keine Grünen. Ihr ganzes Ziel ist die Gründung einer kommunistischen Partei und der Grünen.“ Die Kritik an der NATO, vorgetragen von Ex–General Evren, der 1980 mit Unterstützung der NATO putschte, ist einerseits Ausdruck der Verärgerung darüber, daß trotz aller Liebesdienste, die die türkischen NATO–Generäle dem Westen erweisen, Menschenrechtsverletzungen wie die Kurden– und Armenierfrage stets auf die europäische Tagesordnung gebracht werden. Andererseits ist solche Kritik rhetorisches Hilfswerk, um den Tatbestand zu verdecken, daß sieben Jahre nach dem Putsch - unter anderem inszeniert, um das kurdische Problem „auszumerzen“ - die bewaffneten Kämpfe in Türkisch–Kurdistan nicht ab–, sondern zugenommen haben. Ernstzunehmen ist die Infragestellung der NATO–Mitgliedschaft freilich nicht, und Ministerpräsident Özal schien es am klügsten, die Äußerungen Evrens erst gar nicht zu kommentieren. Denn zeitgleich zu Evrens Sivas–Rede feierte die offizielle Propaganda die traute Harmonie der türkischen, westdeutschen, britischen, italienischen und amerikanischen Truppenverbände, die im NATO– Manöver „Aurora–Express“ im Nordosten der Türkei, in unmittelbarer Nähe der sowjetischen Grenze, „Abschreckung gegen einen möglichen sowjetischen Angriff einüben“, wie der italienische Oberbefehlshaber des Manövers, General Franco Angioni, der türkischen Presse berichtete. Die ideologische Mobilmachung gegen das Ausland entlang einer nationalistischen Linie, die sich von einer kurdischen, armenischen und griechischen Bedrohung nährt, verfehlt nach dem mutmaßlich von der PKK durchgeführten Massaker in Pinarcik nicht ihre innenpolitische Wirkung. Prominente linksbürgerliche Kommentatoren, die den Regierenden eher kritisch gegenüberstehen, klatschten den NATO–Äußerungen Evrens Beifall, und der Vorsitzende der sozialdemokratischen Volkspartei, Inönü, machte kein Hehl daraus, daß er sich über Evrens Rede freute. Auch die Oppositionsparteien bewegen sich im Rahmen des offiziellen Diskurses „Mehr Staat, mehr Waffen“. „Soll sich der Staat im Südosten zeigen, statt unsere Telefone abzuhören“, forderte der Vorsitzende der „Partei des rechten Weges“, Cindoruk, dessen Politik von dem konservativen Ex–Premier Demirel bestimmt wird. Und die Vorsitzende der Partei der demokratischen Linken, Rahisan Ecevit, Frau des sozialdemokratischen Ex–Premiers Bülent Ecevit, machte sich nach Pinarcik auf, um anschließend zu beklagen, daß die Staatsgewalt in diesen Regionen nicht präsent sei. Einzig die Institution der Dorfmiliz, die Praxis der Regierung, PKK–feindliche kurdische Stämme zu bewaffnen, wird von der Opposition mit dem Hinweis kritisiert, die Regierung gefährde hierdurch die Sicherheit der Bürger und delegiere das Gewaltmonopol des Staates. Fatal an der neuerlichen nationalistischen Welle ist vor allem, daß erste Ansätze, in der Öffentlichkeit den Konflikt endlich beim Namen zu nennen und von einem kurdischen Volk in der Türkei zu sprechen, wieder verdrängt werden. So war Mitte März von dem prominenten Sozialdemokraten Metin Toker in einem Leitartikel der Tageszeitung Milliyet auf die offiziell tabuisierte Existenz des kurdischen Volkes in der Türkei hingewiesen worden. Zahlreiche Tageszeitungen und andere Publikationen hatten das Stichwort aufgegriffen und angezweifelt, daß das „Kurdenproblem“, wie bislang versucht, rein militärisch gelöst werden könnte. Damit ist es jetzt wieder vorbei. Statt eine offene Auseinandersetzung um die Kurdenfrage zu führen hat nun wieder der Wettlauf begonnen, wer die „nationalen Interessen“ entschlossener vertritt.
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