: „Hätt sük door well vertellt?“
■ Keine Frage, auf Norderney „hat sich wohl jemand verzählt“ / Während der Stadtbote bereits Mahnschreiben austrägt, warten viele Insulaner immer noch auf den Fragebogen / Lokale Badezeitung größte Stütze der Boykotteure
Aus Norderney Petra Bornhöft
Am Hafen herrscht Hochbetrieb. Fernab der verriegelten Strandkörbe freuen sich Urlauber über die Abwechslung, wenn das Fährschiff aus Norddeich anlegt. Als hilfreich in dem Gewühl erweist sich das verabredete Erkennungszeichen - Zeitung unterm Arm. Zwar kennt jeder Insulaner sie, die Boykotteure der Volkszählung. Aber „Ländies“ vom Festland, so hatte ein Mitglied der Bürgerinitiative prophezeit, hätten keine Chance, die Zensusgegner unter 8.000 Norderneyern und jährlich 160.000 Gästen auszumachen. Schnurstracks chauffiert mich ein herbeigeeilter Lokalreporter zum Rathaus. Das „bundesweite Interesse an Norderney“ ist der lokalen Badezeitung einige Zeilen wert. (Neidlos hat der Redakteur recherchiert, daß die taz–Verkaufszahlen auf der Insel jüngst um 800 Prozent auf acht Exemplare gestiegen sind.) Auf der kurzen Fahrt über Kopfsteinpflaster keine Spur von der Volkszählung. Weder Gegner noch Befürworter haben ihre Argumente öffentlich gesprüht oder geklebt. Wetter, Wattwanderungen, Kurkonzerte oder Geschäfte scheinen als Thema angesagt zwischen zwölfgeschossigen Klötzen und geduckten, gelb–weißen Pensionen oder Hotels. Der Oberzähler kennt sie alle Der Erhebungsstellenleiter Ludwig Pauls scheint auf Besucher zu warten. Sperrangelweit offen steht die Tür zum Zählbüro im menschenleeren zweiten Stock des Rathauses. Auf einem Tisch, an dem zwanzig Personen Platz hätten, stapeln sich Zählermappen, bewacht vom telefonierenden Herrn Pauls. Während er den Händedruck erwidert - eine auf der Insel unübliche Geste und insofern hinreichender Ausweis für eine vertrauenswürdige Fremde -, bekennt er mit einem langen Blick auf den Papierhaufen: „Da sitzt man ganz schön vor.“ Seit Monaten organisiert der grauhaarige Angestellte die Zählung und darf in seinem Büro nicht mehr wie seit Jahren die Akten des Stadtarchivs sortieren. Bis zum 20.Juli soll Herr Pauls alle Daten an das Statistische Landesamt weitergeleitet haben. „Weiß ich nicht, ob ich das schaffe.“ Zu seinem Leidwesen schicken nämlich, „vor allem wegen der bequemlichen Zähler, 70 Prozent der Leute ihre Bögen per Post.“ Und die Korrektur der Fragebögen macht auch mehr Arbeit als erwartet. Denn „etwa achtzig Prozent füllen die Frage nach Schule oder Arbeitsstätte nicht aus.“ Da es nur zwei Schulen am Ort gibt, muß Herr Pauls indes nicht lange knobeln. Und wenn er will, so vermuten Einheimische, kann er auch die Arbeitsstätte nachtragen. Der Oberzähler kennt die Insulaner, natürlich auch „die Boykotteure persönlich“. Eben weil auf dieser Insel nichts und niemand anonym bleibt, macht man sich gegenseitig auch keine Schwierigkeiten. „Mein Chef und ich haben die Bürgerinitiative in Ruhe gelassen. Was sollen wir uns mit ihnen anlegen. Wir leben ja mit denen auch nach der Volkszählung zusammen“, erklärt Pauls, der genau weiß, daß das neue Steckschloß zu seinem Büro hinreichende Abschottung der Erhebungsstelle gewährleistet. „Übergriffe auf unsere Unterlagen brauchen wir nicht zu fürchten.“ In der Tat, nichts würde den Staatsbad–Aktivisten ferner liegen. „Hier lassen sich keine Feindbilder aufbauen“, begründet Susanne von der BI den wechselseitig freundlichen Umgang. Stolz zeigt sie 300 Bögen ohne Kennziffer in die verqualmte Runde des städtischen Büros der Grünen. In der „Sammelstelle“ - der Begriff ist nie gefallen, aber jeder kennt die Funktion der „Beratungsstelle“– beraten seit dem 13.Mai Volkszählungsgegner dreimal wöchentlich Zweifler und Boykotteure. Einmal in der Woche treffen sich etwa 20 Auszubildende, Angestellte aus Heimen und Kurkliniken, Handwerker, Pflegerinnen zwecks gegenseitiger Information und Absprache - der nächsten Presseerklärung. „Aktionen lohnen sich bei uns wenig, da hätten wir sofort einen dran, weil die Polizei jeden kennt“, erläutert Geschäftsmann Enno das ebenso ungewöhnliche wie erfolgreiche Konzept der Gruppe. Das erste flächendeckende Flugblatt steckten sie noch selbst in die Briefkästen - das zweite ließen sie stecken - als offizielle Beilage der lokalen Badezeitung. Mehrmals wöchentlich druckte die „amtliche Zeitung der Stadt und des Nordseeheilbades Norderney“ - die Lektüre des Blattes gilt als absolutes Muß auf der Insel - wörtliche Pressemitteilungen oder Inserate der BI. Den Erfolg dieser Öffentlichkeitsarbeit bringt Enno auf den Punkt: „Das Thema Volkszählung ist hier nie aus der Diskussion gekommen, eine Kriminalisierung war unmöglich.“ Bestätigung und so etwas wie klammheimliche Freude über das Zählchaos erfahren die BI–Mitglieder in Gesprächen mit Kollegen oder Geschäftspartnern. „Macht Ihr man“, heißt es da oft. Daß viele Norderneyer den Zensus ablehnen, kann Fremden nicht entgehen. „Wir warten noch ab, im schlimmsten Fall bin ich am 25.Mai arbeitslos gewesen“, meint die Inhaberin eines Schmuckladens. „Unter uns gesagt, die wollen doch nur rauskriegen, ob wir mit den Vermietungen Schwarzgeld machen“, weiß der Herr über 20 Betten im Zentrum. Selbst für Ludwig Pauls steht fest: „Für die Planung nützt uns die Zählung nix.“ Norderney sei längst bebaut, es gebe mehr als genug Schulen, für weitere Fahrverbote und Tempolimits braucht man keine Volkszählung. Die genaue Einwohnerzahl in Erfahrung zu bringen indes hält Herr Pauls für wichtig. Denn davon hängen die Landesfinanzzu weisungen ab. Und deshalb hat der Stadtdirektor letzte Woche damit begonnen, per Stadtboten die ersten 300 Mahnschreiben austragen zu lassen, obwohl noch längst nicht alle Einwohner den ersten Bogen erhalten haben. „Mit Urlaubszeit können die sich nicht rausreden, die fängt bei uns erst im September an“, Herr Pauls setzt sich gerade, „nach der Mahnung kommt die Zwangsgeldandrohung, dann die Festsetzung und die zweite Androhung“, jetzt faltet er die Hände, „und alles weitere erledigt das Landesamt.“ Längst hat sich die BI, deren Mitglieder sich mehrheitlich zum ersten Mal in zivilem Ungehorsam üben, in den Rechtsweg eingefuchst. „Jetzt geht es erst richtig los“, darin ist man sich einig. Zeit und Lust für einen Streit um politische Perspektiven hat während der Hochsaison, kurz vor Einfall der „Nordrhein–Vandalen“ niemand. „Erstmal müssen wir möglichst formvollendet den juristischen Weg beschreiten“, sagt Volker und fügt der neuen Loseblattsammlung für Widersprüche ein neues Blatt hinzu. Am Donnerstag, wenn die Fristen der Mahnschreiben ablaufen, wird gefeiert im „Haus der Begegnung“. Und die Insel–Vobos hoffen, daß der bundesweite Aufruf für diese „Fristen–Fete“ auch jede Menge Ländies nach Norderney lockt. Nix wie hin!
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