: Steuerreform schickt Pleiteländer und Kommunen in die Finanzkatastrophe
■ Die durch steigende Armut und Arbeitslosigkeit immens anwachsenden Kosten sind nicht mehr zu begleichen und dringend notwendige ökologische Sanierungsinvestitionen werden mehr denn je auf der Strecke bleiben / Jetzige Planungen basieren dabei noch auf utopisch hohen Wachstumszahlen Von Erwin Jurtschitsch und Paul Rieckmann
Es ist das Jahr der Enthüllungen auf dem Finanzsektor. Enthüllt werden die Denkmäler des Monetarismus. Und zum Vorschein kommen der Superkeynesianer Ronald Reagan, die Minikeynesianerin Margret Thatcher und die Meisterverschuldner Kohl/Stoltenberg. Jahrelang hatten sie den Teufel „Staatsverschuldung“ an die Wand gemalt und waren angetreten, um mit konsolidierten Staatsfinanzen und verminderten Steuern das Volk zu beglücken. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Waren es 1982 noch 309 sozialliberale Schuldmilliarden, so werden es 1991 bei Bund, Länder und Gemeinden über 1.000 gelbschwarze Milliarden an Schulden sein. Auch die Neuverschuldung wird kühn nach oben getrieben. 1982 waren die 75 Milliarden des Helmut Schmidt noch eine nationale Katastrophe, doch heute lautet die Devise von F.J. Strauß angesichts von 110 bis 135 Milliarden Neuverschuldung im Jahre 1991: „Die politische Glaubwürdigkeit ist ein höherer Wert als ein paar Milliarden hin oder her“. Milliarden hin oder her - so lautet die Devise von Strauß bis Lambsdorff, die Steuerreform muß durchgeführt werden. Leistung soll sich wieder lohnen, oder einfacher gesagt, gib den Reichen, nimm den Armen. Ende des Jahres soll sie unter Dach und Fach sein: 19 Mrd. DM sollen über sogenannte Umschichtungen finanziert werden, so bleibt eine effektiv zu finanzierende Steuersenkung in Höhe von 25 Milliarden. Die Folgen für die völlig verschuldeten Länder und Gemeinden sind katastrophal für jede ökosoziale Politik: Rien ne va plus für die Ökologie. Hart treffen wird es vor allem die „Pleiteländer“, deren Kassen dann zusätzlich zu den bereits aufgelaufenen Defiziten - in Hamburg eine Milliarde, im Saarland 300 Millionen und in NRW ganze 7,1 Milliarden DM - belastet werden. Für Hamburg summieren sich die Mindereinnahmen im Jahre 1991 zu einem gigantischen Gesamtminus von 2,638 Mrd. DM in den städtischen Kassen (1995: drei Mrd. DM). Da der Gesamthaushalt von 16 Mrd. auch noch mit der um jährlich zehn Prozent ansteigenden Sozialhilfe belastet wird, ist eine „Pleite“ nur noch eine Frage der Zeit. 70 Milliarden nötig Ebenso hart trifft es die Kommunen. Sie hatten schon in den letzten Jahren auf Investitionen in Höhe von zehn Mrd. „verzichtet“ und doch Ende 86 mit einem Gesamtminus von zwei Milliarden abgeschlossen. Während aber die Sozialhilfe–Ausgaben pro Jahr um mindestens 2,6 Mrd. ansteigen, wird sie Stoltenbergs Coup um zusätzliche zehn Mrd. Einnahmen beklauen. Dies dürfte das endgül tige Aus für kommunale Investitionen bedeuten. Dabei hatten doch gerade die Konservativen „ihrem“ Mittelstand und Handwerk genau das Gegenteil versprochen: eine Ausweitung der investiven Maßnahmen. Nun wäre ein Null–Wachstum nicht besonders schlimm, wenn es sich um Autobahnbau, unsinnigen Ansiedlungsfetischismus und die weitere Zerstörung von Naturflächen handelte, doch drei Viertel aller Umweltschutzinvestitionen werden derzeit staatlicherseits von Kommunen und Gemeinden getätigt. Und nirgendwo wären Investitionen so angebracht wie in diesem Bereich. Nach seriösen Schätzungen würden allein für den „Abbau bestehender Defizite“ im Bereich von Abwasserreinigungsanlagen und Kanalsanierung in den nächsten Jahren bis zu 70 Milliarden DM benötigt. Die Sanierung der Altlasten schlagen mit geschätzten 100 Milliarden ebenso zu Buche wie die Waldschäden mit 200 Mrd. DM. Die (falls überhaupt noch mögliche) Sanierung der Grundwasservorräte läßt sich derzeit nicht beziffern. Allein die Kosten der notwendigen Trinkwasseraufbereitung wegen Nitrat–, Pestizid– und Giftbelastung haben sich von 1,2 Mrd. DM im Jahre 1970 auf 2,4 Mrd. DM im Jahre 1986 erhöht. Doch die Schere der Ausgaben öffnete sich im Bereich der Sozialausgaben. Bei anhaltend wachsender Dauerarbeitslosigkeit müssen die Länder und Gemeinden weiterhin die Hauptlast der Sozialausgaben tragen - jedes Jahr müssen sie dafür etwa zehn Prozent mehr auf den Tisch legen. So werden die Länder quasi naturgesetzlich zum Sparen gezwungen, auch SPD–Ländern wird eine antizyklische und sozialere Politik praktisch verunmöglicht. Gleichzeitig aber bedient die Koalition in Bonn die Dreiviertel–Gesellschaft der Einkommensbezieher über 2.000 netto im Monat. Schwarzgelbes Stammklientel, aber auch Wähler bis tief in die Mitte der Sozialdemokratie werden so treu und festgebunden. Die tatsächlich Armen aber sollen nicht nur an den wieder härter werdenden Arbeitsbedingungen (oder den psychosozialen Folgen der Arbeitslosigkeit), der vergifteten Umwelt leiden, sie sollen auch noch die permanent ansteigenden Gesundheits(reparatur)kosten bezahlen. Selbstbeteiligung heißt die Zauberformel für die Eindämmung der 35 Milliarden DM an Krankheitskosten, die nach den Berechnungen des Wirtschaftswissenschaftlers Seipert als direkte Folge auf die „Kehrseite des industriellen Fortschritts“ pro Jahr zurückzuführen sind und durch die modernen Lebens–, Arbeits– und Umweltbedingungen hervorgerufen werden (z.B. Schadstoffbelastungen). Airbus–Schulden Die Regierung aber sorgt für ihre Klientel. So stiegen die Nettoeinnahmen der Unternehmer in den letzten vier Jahren um 50 Prozent, die Arbeitslosenzahl auf das Eineinhalbfache. Im Zeitraum 1983 bis 1987 verschaffte die CDU/FDP–Koalition der Wirtschaft mehr als 40 Milliarden an Steuer–“Erleichterung“. Erleichtert wird den Unternehmen auch weiterhin, verfassungswidrigen Steuerbetrug zu begehen. So sind bundesweit die notwendigen Betriebsprüferstellen bis zu 50 Prozent unterbesetzt. Insgesamt verzeichnete die Deutsche Steuergewerkschaft 1984 Steuerausfälle in Höhe von 48 Mrd. DM. Damit liegt die indirekte Subventionspraxis noch weit über der direkten. Landwirtschaft, Luftfahrt, Bergbau u.a. kassierten 1984 an die 32 Milliarden. Die Konservativen, auch hier angetreten, die Subventionen massiv zu senken, legten in der Ära Stoltenberg 20 Prozent an Subventionen zu. Doch auch diese Gelder kommen kaum bei den tatsächlich Betroffenen an. So gehen von den 2.300 DM an Subventionen je Arbeitsplatz in der Landwirtschaft etwa 68 Prozent in die Lagerhaltung, etwa 30 Prozent in die verarbeitende Industrie und nur ganze zehn Prozent sind einkommenswirksam. Neben den Geldern für Raumfahrt, Bauern, Kohle und Stahl und insbesonders den Straußschen Airbus muß Schuldenminister Stoltenberg fürs Babyjahr, Trümmerfrauen, Pflegegeld und Rentenanpassung noch mal zusätzliche Mittel in Höhe von zehn bis zwölf Mrd. ausgeben. Dieses finanzpolitische Bild der Düsternis geht aber noch von utopischen Wachstumsraten von bis zu 2,5 Prozent aus. Bei einem Nullwachstum bis 1991 aber wird das Steuergeschenk zum gewagten Glücksspiel. Kommunen, Länder und Gemeinden fielen dann in ein schwarzes Finanzloch - im Jahr 1991 135 Milliarden Neuverschuldung. Es bliebe nicht einmal mehr die zynische Alternative Sozialhilfe oder Altlastsanierung, sondern ein Circulus vitiosus von verschärfter Armut, unterlassener Umweltsanierung und ein gelähmter Sozialstaat. Angesichts dieser Konsequenzen ist es kein Wunder, wenn sich führende Unionspolitiker des CDA–Flügels um Heiner Geißler, Rita Süssmuth und Norbert Blüm und ebenso betroffenen Länderchefs wie Späth und Albrecht sich bereits von Gerhard Schulden– berg absetzen. Denn die CDU kann, da sie selbst massiv in den Ländern und Gemeinden eingebunden ist und die Folgen der Stoltenbergschen Reformen tragen müßte, nicht einfach durchzocken. Der SPD–Abgeordnete Joachim Poß in seiner Analyse über Blüms Chancen an Rhein und Ruhr: „... Die zunehmenden Haushaltsprobleme aber führen dazu, daß Blüm in NRW mit leeren Taschen herumlaufen muß. Das Geld, das in Bonn abzuholen war, hat Strauß bereits abkassiert. In dieser Situation fehlt der Kampagne des Norbert Blüm die materielle Substanz...“ Damit aber wird das Verhalten der FDP über das weitere Schicksal der Koalition und möglicherweise auch einer zukünftigen Bundesregierung entscheiden. Und hier wären zwei Varianten möglich: Die Lambsdorff–FDP setzt voll auf Klientelpolitik und versucht die CDU zur großen Steuerreform und massivem Subventionsabbau bei Stahl, Kohle und Bauern zu zwingen. Der Konflikt Lambsdorff–Späth verschärft sich, in der CDU wird verstärkt über eine Wende hin zur SPD nachgedacht. Aus der Sicht führender SPD– und CDU–Politiker bietet sich eine Große Koalition zum „Großreinemachen“ in den nächsten Jahren geradezu an. Denn immer schon bestand - bei allen wichtigen anderen Differenzen - zwischen den großen Parteien ein Konsens über wichtige und notwendige „Reform“–Vorhaben. Erinnert sei hier nur an das Stabilitätsgesetz, die Rentenreform oder den Länderfinanzausgleich. Kein „Thatcher“–Modell Eine Neuauflage zur Regelung so zentraler Probleme wie Renten, Krankenkassenfinanzierung, Steuer– und EG–Politik könnte die CDU aus dem FDP–Dilemma befreien und die SPD erneut a la Wehner in die Nähe der Bonner Schalthebel bringen. Die CDU hat registrieren müssen, daß in einem föderalen System wie der BRD reiner Thatcherismus nicht durchsetzbar ist. Norbert Blüm dazu auf dem Wirtschaftstag des CDU–Wirtschaftsrates: „Das Modell Margret Thatchers für den Strukturwandel ist nicht mein Modell“. Die Bonner Zentrale stößt bei den Kommunen (Stichwort: Manfred Rommel) an die Grenze ihrer (innerparteilichen) Macht. Als idealen Counterpart auf SPD–Seite wäre Oskar Lafontaine in der Rolle des zur Jagd getragenen Jagdhundes vorstellbar. Gewinnt er kurz vor der Bundestagswahl mit dem Slogan „Unser Oskar muß Kanzler werden“ die Saarwahlen, kann ihn niemand mehr aufhalten. Da eine FDP der Immobilien–Haie und Spekulanten ein schwer kalkulierbarer und insbesondere auch für die Gewerkschaften schwer verdaubarer Partner bleibt, ist der Weg in die Große Koalition ohne Grüne vorgezeichnet. In der CDU aber könnten Kohl und Stoltenberg als notwendige Bauernopfer im wahrsten Sinne des Wortes am Wegesrand verlorengehen. Lothar Späth könnte dann mit Oskar Lafontaine die ökologische Modernisierung der Bundesrepublik betreiben. Wahrscheinlicher aber ist die zweite Variante: CDU/CSU und eine geläuterte FDP sehen sich durch sinkende Wachstumsraten „gezwungen“, eine Scheinreform durchzuführen. Eine abgemilderte Stoltenberg–Variante wird dann wahrscheinlich mit einer Erhöhung von Mehrwert– und Verbrauchssteuern finanziert. Und über das FDP–Lieblingskind Subventionsabau hat bereits Max Streibl, bayerischer Finanzminister, endgültige Wahrheiten verkündet: „Ich habe immer gesagt: Subventionsabbau wäre eine gute Sache. Ich glaube aber nicht daran, daß hier in der Praxis sehr viel bewegt werden kann...“. Die FDP müßte zu solchen Einsichten möglicherweise gar nicht mehr gezwungen werden, denn je mehr und öfter sie in Länderparlamenten in Regierungen sitzt, umso heftiger wird auch innerhalb der FDP der Streit um die Finanzierbarkeit der „Reform“ anlaufen. Nach einer gemeinsamen Scheinreform könnten sich die Koalitionspartner dann darauf verständigen, die SPD - dort wo es möglich ist - in die Arme der Grünen zu treiben. Norbert Blüm in der Zeit: „... Wenn sich die SPD stärker mit den Grünen liiert, werden viele Arbeitnehmer heimatlos. Wir müssen dafür sorgen, daß sie bei uns ein neues Zuhause finden. Das ist für uns eine historische Chance. Wir dürfen sie nicht verpassen. Ich weiß nicht, wann sie wiederkommt...“. Nach der ideologischen Hetze gegen Rot– Grün könnte dann zu einem - sicherlich gemäßigten - britischen Modell übergegangen werden. Durch Steuer– und Strukturpolitik sowie einen unverändert ungleichmäßigen Länderfinanzausgleich könnten die Konservativen die Bundesländer Hamburg, Bremen, Saarland und NRW als „Pleiteländer“ ausbluten lassen. Die Armenhäuser der BRD, mit den höchsten Arbeitslosenzahlen und den meisten Krisenbranchen (Stahl, Werften, Kohle, Schiffahrt) würden dann von roten oder rot–grünen Regierungen als Exekutoren Bonner Politik gegen die Bevölkerung regiert werden. Für die Grünen kann das Bäumchen–Wechsel–Dich–Spiel eines nur noch intern rotierenden Machtkartells der Schwarz–Rot– Gelben das langfristige Aus bedeuten. So ließe sich zwar im ökologischen Ghetto überleben, doch die Partei hätte gleichzeitig jeglichen Einfluß auf eine transformierende Reformpolitik verloren. Erwin Jurtschitsch und Paul Rieckmann sind Umwelt– und Wirtschaftsreferenten der Grün–Alternativen Liste Hamburg.
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