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Wandelnde Wollpullover strahlen in Wales

■ Die Schafzucht in Nord–Wales leidet auch 15 Monate nach Tschernobyl immer noch unter den radioaktiven Folgen des Super–Gaus / Behörden deklarieren Ausnahmezonen, in denen Schafe nicht geschlachtet und verkauft werden dürfen

Aus Nord–Wales Rolf Paasch

Tom Jones ist gerade aus Caernarvon auf seine Farm nach Llanefechell zurückgekehrt. Wieder einmal hat sich der Stellvertretende Präsident des Walisischen Bauernverbandes in der Distrikthauptstadt mit den Beamten des Ministeriums für walisische Angelegenheiten und des britischen Landwirtschaftsministeriums getroffen, um über Kompensationszahlungen zu reden. Kompensation für die Auswirkungen des Größten Anzunehmenden Unfalls am 26. April 1986 rund 2.000 Meilen östlich des kargen Weidelandes der walisischen Schafzüchter. Vor einer Woche hatte das Wales– Ministerium rund um Llanuwchllyn ein weiteres Gebiet zur Ausnahmezone erklärt, in der die Schafe weder umhergetrieben noch auf dem freien Markt verkauft oder geschlachtet werden dürfen. Bis zu 3.500 Becquerel pro Kilogramm hatten hier die jüngsten Messungen unter den Bergschafen betragen, nachdem eine EG–Direktive den Grenzwert für noch eßbares Lammkotelett nach dem Super–GAU mehr oder minder willkürlich auf 1.000 Becquerel/kg festgelegt hatte. „Wir hier unten auf den Küstenstreifen haben Glück gehabt, weil sich das Cäsium hier schneller abbaut, aber drüben auf den Bergfarmen sind eine ganze Reihe von Bauern in ihrer Existenz bedroht“, erzählt Tom Jones bei einer Tasse Tee vom Schicksal seiner Kollegen, die er als Gewerkschaftsführer an diesem Morgen wieder vertreten hat. „Schließlich gibt es in diesem Teil der Welt keine Alternative zur Schafzucht.“ Daß nach dem Niedergehen des Tschernobyl–Regens über Nord–Wales nicht noch mehr Farmer ihren Schäfchen folgten und ins radioaktive Gras beißen mußten, haben sie in der Tat ihrer Gewerkschaft zu verdanken. Denn zunächst wollte das Landwirtschaftsministerium in London für die ursprünglich 43 Mio. vom Markt verbannten Schafe kaum Kompensationszahlungen leisten. Bis dann im September letzten Jahres 200 erboste Bauern im walisischen Llanshot zwei mit ihnen verhandelnde Ministerialbeamten nach einer hitzi gen Unterredung „als Geiseln nahmen“, wie sich Tom Jones ausdrückt. Da hat auch das Landwirtschaftsministerium erkannt, daß die erbosten Besitzer der meist etwas dämlich dreinschauenden Wolltierchen keine gute Reklame für den effizienten Umgang mit dem nuklearen Fall Out darstellen. Seitdem hat in Großbritannien die Bauernlobby gegen die Lebensmittellobby gewonnen; „die machen jetzt groß auf Sicherheit“, so Tom Jones über die Linie aus London; seitdem tragen die wandelnden Wollpullover mit ihrem Cäsium 137–Gehalt orange Warnmarkierungen, die sie von der Teilnahme am freien Wettbewerb ausschließen; seitdem fließen auch die Kompensationsgelder relativ zügig auf die Konten der 300 Bauern, deren 200.000 Schafe auch heute noch offiziell verseucht sind. Die Bauern hatten in der Vergangenheit allen Grund, den Londoner Behörden völliges Versagen im Umgang mit dem radioaktiven Regen vorzuwerfen. Sechs Wochen dauerte es im vergangenen Frühjahr, ehe das Ministerium eine gesundheitsschädliche Verseuchung Schottlands, Cum brias und Nord–Wales überhaupt zugab und am 20. Juni Restriktionen für den dortien Schafanbau einführte. „Für ein paar Tage, höchstens Wochen“, wie Landwirtschaftsminister Jopling damals verkündete. Für den Durchschnittsfarmer in den walisischen Bergen mit seinen 400 Tieren bedeutete dies einen Wertverlust von bis zu 15.000 DM und einen bedrohlichen Einkommensverlust für seinen Hof, der trotz hoher EG– Subventionen meist am Rande der Rentabilität wirtschaftet. Das Mißtrauen gegenüber den staatlichen Stellen und der Atomindustrie ging so weit, daß selbst unter den sonst eher konservativen Bauern unbeweisbare Beschuldigungen die Runde machten. Wie in der Region um die nordenglische Wiederaufarbeitungsanlage von Sellafield vermuteten auch einige Waliser, daß die Betreiber der heimischen Atomanlagen in Wylfa und Trawsfynydd den Tschernobyl–Regen dazu benutzt hätten, ihre radioaktiven Rückstände unbemerkt loszuwerden. „Jedenfalls ist unsere Gewerkschaft jetzt gegen Atomkraft“, bekräftigt Tom Jones, „wenn das auch bei den zwei Prozent der britischen Bevölkerung, die wir darstellen, nicht allzuviel ausmacht.“ Auch seine Gewerkschaft mußte im Juni betrübt feststellen, daß Atomkraft trotz Tschernobyl und den atomaren Ausbauplänen der Regierung Thatcher bei den Parlamentswahlen kein Thema war. Während die Schafzüchter im nur spärlich besiedelten schottischen und walisischen Hochland der ersten Generation von „Tschernobyl–Lämmern“ des Frühjahrs 1988, dem ersten Nachwuchs des Jahrgangs 1986, mit Besorgnis entgegenblicken, war und ist die Restbevölkerung Großbritanniens von den Auswirkungen Tschernobyls kaum betroffen. „Das ganze Bild sähe anders aus“, so vermutet Tom Jones, „wenn der radioaktive Regen im letzten Jahr nicht über Wales, sondern über London niedergegangen wäre.“ Selbst der Wetterfrosch scheint in Großbritannien unter dem Einfluß der Atomindustrie zu stehen.

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