: Von der Utopie ist der Alltag geblieben
■ Nach fünf Jahren ist das deutsche Aussteigerprojekt „Utopiaggia“ in Mittelitalien genügsam geworden / Aus den großen Plänen ist nichts geworden, aber der Alltag funktioniert - nach dem Muster einer Zweck–WG / „Utopie ist, hier zu leben, ohne in Deutschland schaffen zu gehen“ / Mitmacher werden dringend gesucht
Von Klaus Lange
Fernab vom Feriengetümmel Adria/Riviera, zwischen dem teuren Florenz und dem nuttigen Rom, liegt Umbrien. Die Landschaft ist hier merkwürdig schön: ärmlich, ruppig, unfreundlich fast. Bevorzugtes Ausflugsziel für Bewohner der Täler, die hinauffahren in die ewig grün–blauen Hügel, den Kofferraum leerfressen und dazu Ambiente schlürfen: Eichen– und Pinienwälder, Pilze und alte Klöster. Gegengift zum täglichen Leben. „Utopiaggia“ ist eines der größten Aussteigerprojekte in Europa. Es liegt mitten im Umbrien, 30 Kilometer südlich des Lago Trasimeno, in den Bergen zwischen Montegabbione und Tavernelle, nördlich des Tibertals. „Utopiaggia“ ist Gegengift täglich. Utopie als Alltag. Andere sind größer: Longo Mai, Findhorn, Christiania. Aber sie werden in Utopiaggia wegdefiniert. Als prä–faschistisch, mystisch, städtisch. Nur „Sarakiniko“ auf Ithaka,, Griechenland gilt als vergleichbar. Doch graue Kunde dringt von dort übers Ionische Meer: Rückzug, Privatisierung, Ausverkauf... Auch „Utopiaggia“ spürt jedoch die Jahre. Wenig mehr ist geblieben als das, was vorher schon war: „Villa Piaggia“, das klobig– verschrobene Haupthaus, „Costarella“ mit den Ställen, „Poggio“ auf dem Hügel. Drei Häuser, knapp 100 Hektar, und ziemlich viel Dreck. Von Utopie keine Spur, es sieht nur aus wie vor 200 Jahren. Der Unterschied zur Ära der Leibeigenschaft: Die Verkehrssprache ist deutsch, die Eigentumsfrage ungeklärt. Zweitzimmer statt Raumnot Bei der Gründung im Mai 1982 hieß es: Verfügungsgewalt dem, der dort lebt und arbeitet; Grundbesitz dem, der zum Kauf (eine halbe Million Mark) beiträgt. Kein Problem, so lange die Käufer Siedler waren und wurden. Doch nun sind - wie in Sarakiniko - mehr Leute draußen als drinnen. 17 Erwachsene und elf Kinder leben noch hier, in 27 Zimmern und etlichen Wohnwagen. Als es voll war, 1983/84, und noch viele kommen wollten, waren es 30 Große und 20 Kleine. Da herrschte Wohnungsnot, heute hat man ein Zweitzimmer. Einer der Gründe für den Exodus (außer dem Dauer–Nerv der Zusammengepferchten): Das „Konsens–prinzip“, heilige Richtschnur aller Entscheidungen, flankiert vom Vetorecht Einzelner, hat versagt. Wie bei den Grünen in Bonn. Jetzt gilt das Durchsetzungsprinzip. Die Unmöglichkeit, über Fragen des Lebens plenar zu befinden, hat das Plenum ausgehöhlt - und das Leben. Jeder macht, was er will. Auf alle Verstöße gegen das Gruppencredo steht Psychostreß als Höchststrafe. Die Dickfelligen haben es gut. Nur einer flog raus, der hatte geprügelt. So gingen die Singles (ich auch) und die Sensiblen. Auf dem Plumpsklo liegt „Darwin - Leben und Werk“. Direkte Demokratie ist zur unmittelbaren verkommen: Entscheidungen fallen auf unterster Ebene. Die Macher haben sich angewöhnt, zu handeln statt zu debattieren. Das Fünfjahrestreffen beschloß, daß Innen und Außen zusammgehören (die Ehemaligen waren in der Überzahl). Entscheiden aber werden auch künftig die Bewohner und niemand sonst. Schon definieren die Dauersiedler - die meisten Bewohner pendeln zwischen Deutschland und Italien - wer präsent ist oder nur da. Letztere haben nicht mitzureden, Pendler noch weniger, Außenstehende schon gar nicht. Kommendes Kraftzentrum, weil das Projekt nur noch dem Überleben dient, sind die Landwirte. Früher galten Ackerbau und Viehzucht als Medium für den Gruppenprozeß, heute krallt man sich in die Erde, weil alles andere verflogen ist. Zehn Hektar Weideland, 46 Schafe, zwei Kühe, Ziegen, Schweine, ein Pferd, Hühner und Gänse. Zitat: „Für mich ist Utopie, wenn ich hier leben kann, ohne in Deutschland schaffen zu gehen.“ Vier Leute bringen inzwischen vor Ort den Haushaltsbeitrag zusammen. 300 Mark monatlich könnten reichen, wenn alle zahlen. Aber nicht jeder tut es. Nur formell existent, bastelt eine „cooperativa agricola“ an ihrer bürokratischen Fassade. Ökonomisch und auch sonst ist sie bedeutungslos. Ebenfalls separat wurschteln die Bewohner der Häuser: Wer in der falschen Küche Essen begehrt, fällt auf. Autonom entscheiden auch Auto–Inhaber, wem sie ihr Gefährt leihen - gegen Kilometergeld. Kollektiv gleich anonym Das einst umfassende Kollektiv funktioniert umso schlechter, je weniger individuelle Interessen berührt sind. Die Gerümpelecken auf dem Grundstück kennzeichnen den kollektiven - ergo anonymen - Sektor. Nach dem Muster von Zweck–WGs ist das Existenzielle am besten geregelt. Nichts ist geblieben von der volltönenden Propaganda. Die Aufhebung der Geschlechterrollen, von Kopf– und Handarbeit - alles „Größenwahn“. Ein deutsch–italienischer Kulturverein bekam die Gemeinnützigkeit entzogen - mangels nachweisbarer Aktivitäten. Das Mitteilungsblatt „Utopiaggia“ brachte die vierte Nummer in fünf Jahren heraus - es steht vor der Einstellung. Gemeinsame Projekte jenseits der Grundstücksgrenzen (ein Schulprojekt - viel bestaunt - für deutsche und einheimische Kinder, zwei Ansätze zum Weinhandel mit Deutschland) schliefen ein oder scheiterten. Kaum einen juckt das. Mehr schlecht als biodynamisch läuft die vom Fiskus gestützte Landwirtschaft. Das Positive blüht und gedeiht erst in den Gärten: Sie sind eine Pracht. Vollends erstaunlich für Innen– und Außenstehende: Der Kollektiv–Einkauf im Supermercato läuft immer noch wie am Anfang. Genauso die gemeinsame Küche. Paradiesisch wirds im Privatbereich. Die Zeit der offenen Konflikte ist vorüber. „Wir haben einen großen Koller“, sagt einer. Das Klima ist gespannt, aber freundlich. Den Kindern geht es am besten: Keiner erzieht sie. Den Gipfel der Utopie hat „Utopiaggia“ in den Beziehungen erreicht: Nur zwei der Paare haben die Zeitläufe überstanden - alle anderen wechselten untereinander die Partner. Mitmacher werden dringend gesucht. „Utopiaggia“, Villa Piaggia 21, I 05010 Montegabbione (Terni)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen