: Für eine Wende in der Energiepolitik
■ Der DGB ein Jahr nach Tschernobyl / Die Ausstiegsdebatte oder: die Partikularinteressen dreier Einzelgewerkschaften scheinen stärker zu sein als das Gesamtinteresse des DGB / Die Schizophrenie der Doppelfunktionäre / „Der DGB ist politisch gelähmt“ / Neun Thesen von Hans–Hermann Hertle*
I. Ein glühender Befürworter der Atomenergie schwenkte um. Nur vier Wochen nach Tschernobyl beschloß der 13. ordentliche DGB–Bundeskongreß im Mai 1986 eine Energiepolitik, „die es uns ermöglicht, so rasch wie möglich auf den Einsatz der Kernenergie zu verzichten“. Wie EMNID ermittelte, befanden sich die Gewerkschaften damit auf der Seite der Mehrheit der Bevölkerung - ein guter Ausgangspunkt für eine auf Veränderung abzielende Politik. „Tschernobyl steckt uns allen in den Knochen“, erkannte sogar der für den Energiebereich seiner Gewerkschaft zuständige zweite Vorsitzende der ÖTV, Karl– Heinz Hoffmann, und beim Mittagessen im Hamburger Congress Centrum waren die neuesten Belastungswerte der Lebensmittel und die Verhinderung einer strahlenden Zukunft für ihre Kinder ungewohnte Gesprächsthemen der Delegierten. Soviel Betroffenheit und eine seltene Ernsthaftigkeit der Debatte veranlaßten die BefürworterInnen eines sofortigen Ausstiegs und konkreter Maßnahmen aus verschiedenen kleinen DGB–Gewerkschaften, auf die Durchsetzung ihrer weitergehenden Anträge zu verzichten. Die Tage der in den siebziger Jahren aufgebrochenen Spaltung der westdeutschen Linken in der Frage der friedlichen Nutzung der Atomenergie schienen gezählt. II. Die Explosion der Kernschmelze eines sozialistischen Atomreaktors im Vaterland aller Werktätigen mißachtete die Theorie, daß die Beherrschbarkeit und die Verträglichkeit hochentwickelter Produktivkräfte lediglich eine Frage ihrer nicht–kapitalistischen Anwendung sei. Daß es die Sachzwänge des real existierenden Sozialismus nötig machen würden, dennoch die Theorie für richtig zu erklären und die Realität für falsch, war angesichts des expansiv ausgelegten Atomprogramms der UdSSR zu befürchten. Auch nach Tschernobyl und unter Gorbatschow hält die Sowjetunion an der Perspektive fest, bis zum Jahr 2000 die Zahl ihrer AKWs zu verfünffachen. III. In der Bundesrepublik verkürzte sich die Halbwertszeit gewerkschaftlicher Betroffenheit mit dem zeitlichen Abstand zur Reaktorkatastrophe in der fernen Ukraine. Die Tragweite der aus ihr resultierenden Konsequenzen mochte es ratsam erscheinen lassen, die unmittelbaren Auswirkungen radioaktiver Strahlengefährdungen sukzessive aus der eigenen Erfahrungswelt täglicher Jod– und Cäsiumwerte von verstrahlten Lebensmitteln an den Ursprungsort des Geschehens zurückzuverbannen und zur Singularität der Katastrophe zurückzukehren. Harrisburg ist in Harrisburg, Windscale in Windscale, La Hague in La Hague und auch Tschernobyl ist nicht überall, sondern in Tschernobyl. Nicht die Technik ist unbeherrschbar, sondern der Mensch - im vorliegenden Fall in seiner Erscheinungsform als dominospielender, schlampiger Russe - versagt. Das System ist entlastet. IV. Für den gewerkschaftlichen Ausstiegsbeschluß wurde bis heute nicht in der Gesellschaft geworben. Vielmehr verlagerte sich der Kampf um seine richtige Interpretation in die eigenen Reihen. Die Atomlobby machte Druck, und Stück für Stück wichen hochrangige Funktionäre der ÖTV, IG Bergbau und Energie (IGBE) und der IG Chemie zurück und pervertierten den DGB–Beschluß in sein Gegenteil. „Ausstieg aus der Kernenergie“ bedeutet nach Atom–Gewerkschafter–Lesart: - die Abschaltung keines einzigen Atomreaktors, - das Festhalten an der Baulinie der Hochtemperaturreaktoren, - die zusätzliche Inbetriebnahme von fünf im Bau befindlichen AKWs, - den Einstieg in die Wiederaufarbeitung in Wackersdorf als Versuchsanlage. Ausstieg „so rasch wie möglich“ und „kein Jota langsamer“ (Steinkühler), das heißt bis heute im wesentlichen, der normativen Kraft des Faktischen durch Untätigkeit zu entsprechen und günstigstenfalls einen gegenteiligen Eindruck vorzuspiegeln. V. Eine Folge dieser Politik ist die Schizophrenie der Doppelfunktionäre. Der IG Bergbau–Vorsitzende Meyer etwa stimmt als Mitglied der Hauff–Kommission der SPD einem Bericht zu, den seine Gewerkschaft und er selbst als Gewerkschafter bekämpft. Monika Wulf–Mathies und Hermann Rappe, beide wie Meyer Mitglieder des SPD–Gewerkschaftsrates, Rappe zugleich SPD–MdB, votieren auf dem Nürnberger Parteitag im August 1986 für einen Energieantrag, dessen Ausstiegsfristen sie als GewerkschafterIn vehement bekämpfen. VI. Obwohl die IG Metall im Herbst 1986 den DGB–Beschluß bekräftigt und fünf Einzelgewerkschaften in ihren Forderungen nach einem Ausstieg weitergehen, bleibt der DGB merkwürdig passiv. Der von Ernst Breit angekündigten Erarbeitung einer zeitlichen Perspektive des Ausstiegs folgt später ein Dementi. Die Partikularinteressen von Teilen dreier Einzelgewerkschaften scheinen stärker zu sein als das Gesamtinteresse des DGB. Der DGB ist politisch gelähmt. VII. Die deutsche Energiewirtschaft stellt sich als ein nahezu undurchschaubarer und undurchdringlicher Dschungel dar; Bund, Länder und Gemeinden, wissenschaftliche Institute und öffentliche Institutionen, Konzerne und Gewerkschaften scheinen hoffnungslos verflochten und verfilzt. Der deutsche Steinkohlebergbau ist eine unter Weltmarktaspekte der Zustimmung zum „Kohle/ Kernkraft–Konsens“ bezahlt - und damit selbst ihren eigenen Niedergang sozialverträglich geregelt. Wer in der Vergangenheit so gut bedient wurde, bleibt auch in neuen Situationen Realist. Der Verfall der Ölpreise und des Dollarkurses 1986 verschärften die Abhängigkeit und Erpressbarkeit der IG Bergbau durch die Energiekonzerne und die Bundesregierung noch mehr. Die IG Bergbau dachte überhaupt nicht daran, die angeschlagene Glaubwürdigkeit der Atomkraft für eine Steigerung der Kohleproduktion auszunutzen, um der Atomkraft dann endgültig den Garaus zu machen. VIII. Der erste Schritt einer übergreifenden, gewerkschaftlichen Strategiediskussion für eine Wende in der Energiepolitik muß darin bestehen, die Mitglieder über die Verhältnisse im Energiesektor aufzuklären und von gewerkschaftlicher Seite alle Abhängigkeiten in ökonomischer, politischer und personeller Hinsicht offenzulegen. Jede gewerkschaftliche Energiestrategie muß die Geiselsituation des Bergbaus als Ausgangspunkt berücksichtigen und eine offensive Befreiungs– und Ablösekonzeption erarbeiten, um eine Quelle ständiger Erpressung durch die Atommafia zu stoppen. Das vielbeschworene Ende der Einheitsgewerkschaft und der Arbeiterbewegung wäre tatsächlich dann erreicht, wenn der traditionelle gewerkschaftliche Solidarirätsbegriff dazu mißbraucht würde, das politische Wollen und gesellschaftliche Wohl einer übergroßen Mehrheit der KollegInnen den bornierten Teilinteressen einer in Staatsabhängigkeit geratenen Minderheit zu opfern. IX. „Bevor sich die Atomlobby zum Energiemonopol weiterentwickelt, muß der energiepolitische Kurs geändert werden“, rief Ernst Haar, der Vorsitzende der Eisenbahnergewerkschaft, den Delegierten des DGB–Kongresses zu. Der Schritt vom gewerkschaftlichen Beschlußlagen–Fallout zu einer auf Massenmobilisierung und Öffentlichkeitsarbeit abzielenden Politik für eine Wende in der Energiepolitik ist überfällig, der Ausstieg aus einer unkontrollierbaren Technik nachweisbar möglich. Er muß allerdings politisch gewollt werden. *Hans–Hermann Hertle ist Mitarbeiter am Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung an der FU Berlin und Mitglied der ÖTV
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