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Ein Film um einen Blick

■ Louis Malles neues Werk „Auf Wiedersehen, Kinder“

Aus Venedig Arno Widmann

Louis Malles neuer Film „Auf Wiedersehen, Kinder“ hat unserem Beobachter gefallen, auch wenn er sich, was Namen angeht, auf sein Gedächtnis nicht verlassen kann. Zwei bewaffnete Männer betreten den Klassenraum, hinter ihnen ein Mann in Zivil: „Müller, Gestapo“ stellt er sich vor. Die deutsche Besatzungsmacht hat in dem französischen Karmeliterinternat, in dem vor allem Jungen aus reichen Familien aufs Abitur vorbereitet werden, jüdische Kinder entdeckt. Der Gestapo–Mann fragt: „Wer von euch ist Kippelstein?“ Keiner der Jungen antwortet. Nur der Hauptdarsteller weiß, daß der Mitschüler Charles Bonnet, sein bester Freund, in Wirklichkeit Kippelstein heißt und hier im Internat vor den Deutschen und den französischen Behörden versteckt wird. Gestapo–Müller wendet sich zur Landkarte und reißt die US–Fähnchen ab, die den Frontverlauf des Februar 1944 abstecken, so wie ihn der Lehrer aus Meldungen von Radio London und Radio Paris konstruiert hat. In diesem Augenblick dreht sich der elfjährige Junge um. Er sucht Blickkontakt mit seinem bedrohten Freund. Ein Reflex. Ein mörderischer Reflex. Gestapo–Müller hat den Blick aufgefangen, geht nach hinten zu Kippelstein und sagt nur: „Nun.“ Der Junge blickt ihn an, nimmt seinen Füller, schraubt ihn zusammen, legt ihn ins Federmäppchen, packt die anderen Sachen und geht, sich von seinen Kameraden zu verabschieden. Um diesen Blick dreht sich der Film. Diese kleine Schuld, dieses kleine Stück Verantwortung. Natürlich gibt es die zärtlichsten Szenen zwischen Mutter und Sohn, die Schulhofrangeleien, die kleinen Sadismen des Internatslebens. Es gibt den leichten Ton, ironisch schwingende Dialoge. Es gibt all das, was wir lieben bei Louis Malle. Aber es gibt auch diesen Blick. Diesen dick aufgetragenen, unübersehbaren Blick. Ein dicker Klumpen in einer wunderbar klaren Brühe. Louis Malle berichtet, er habe diesen Blick ins Drehbuch geschrieben ohne zu wissen, daß er - Louis Malle - ihn damals wirklich seinem Freund zugeworfen hatte. Heute weiß er, daß dieser Blick ihm sich am deutlichsten eingeprägt hatte, daß alles, was er später tat, mit diesem Blick zu tun hatte. Lange habe er gebraucht, um diese Szene zu filmen, jetzt fühle er sich leer, als habe er alles gesagt, alles verraten. Nein, eine Erleichterung sei es weniger, mehr das Gefühl, ausgebrannt zu sein.

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