: Eine mobile Gesellschaft
■ Industrielle Restrukturierung der USA bringt gesellschaftliche Umwälzungen aber keine einseitigen Verarmungstendenzen mit sich
Der heutige Teil der taz–Serie über die USA ist der zweite zum Thema industrielle Restrukturierung und Dienstleistungsgesellschaft. Jürgen Gabriel kommt dabei zu teils gegensätzlichen Ergebnissen gegenüber Kurt Hübner, dessen Artikel wir vor einer Woche veröffentlichten (d.Red.).
Amerika, ein ökonomischer Traum. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bauten die US–Amerikaner ihre globale Vormachtstellung sukzessive aus. Der Dollar ist auf der Konferenz von Bretton Woods als Hauptreservewährung etabliert worden und hat trotz aller Turbulenzen auf den internationalen Währungsmärkten bis heute diese Stellung behaupten können. Im Innern des Landes hat sich ein Wirtschaftssystem entwickelt, das auch für weit kleinere Staaten Vorbildcharakter hat. Bis heute ist es keinem Land gelungen, pro Kopf ein höheres Sozialprodukt zu erwirtschaften. Noch nie gab es in der Geschichte ein soziales System, das für so viele Menschen einen so großen materiellen Wohlstand bereitstellte. Und noch immer zieht dieses Land Scharen von Einwanderern auf der Suche nach dem amerikanischen Traum aus allen Ländern der Erde an. Und für viele wird dieser Traum Wirklichkeit. Amerika, ein ökonomischer Alptraum. Wenn Amerika hustet, kriegt (nicht nur) Europa eine Erkältung. Steht der Dollar hoch, ist dort Ausverkauf der nationalen Ökonomien angesagt, steht er niedrig, schrumpfen die Exportmärkte. Trotz seiner Potenz und Ressourcenreichtums ist Amerika zum größten Schuldnerland der Welt geworden. Das System, das so viel Reichtum schafft, kreiert auch enorm viel Armut. Legt man offizielle Maßstäbe an, vegetieren ca. 15 Millionen Menschen am Rande oder unterhalb der Armutsschwelle. Glanz und Elend überall. Einerseits werden die unglaublichsten Technologien entwickelt, andererseits sind die industriellen Standardprodukte denen aus Europa und Japan hilflos unterlegen. Es werden Daten per Satellit von einem Landesteil zum anderen in Bruchteilen von Sekunden übertragen, während die Autos wegen der riesigen Schlaglöcher in den Straßen der Großstädte auseinanderzufliegen drohen. Eben noch blühende Stadtteile werden unversehens zu riesigen Müllhalden. Das ganze Land steht unter dem Zeichen widersprüchlicher, gegensätzlicher Entwicklungen. Strömen Menschen und Kapital noch in die Zentren vermuteten Wachstums, das dort die Bodenpreise und Lebenshaltungskosten ins Unermeßliche treibt, hat sich die Avantgarde längst aufgemacht noch oder wieder brachliegende Räume zu besetzen. Frost– und Sonnengürtel Es ist noch nicht lange her, als Meldungen vom angeblich nicht aufzuhaltenden Niedergang Manhattans zu einem riesigen Slum die Menschen aufschreckten. Aber zum hundertsten Geburtstag der Freiheitsstatue ist Manhattan so lebhaft wie noch nie. Absurde Bodenpreise werden verlangt - und bezahlt. Obwohl die Wolkenkratzer wie in Zeiten der Gründerväter in den Himmel wachsen, kann das Angebot an Büroraum die Nachfrage kaum stillen. Es ist auch noch unvergessen, daß ganze Industriezweige aus dem sogenannten „Frostgürtel“ verschwanden, um in den Süden verlagert zu werden. Während erwogen wurde, in Detroit den Notstand auszurufen, weil viele arbeitslose Menschen und ihre Familien ihre Häuser aus Benzinmangel nicht verlassen konnten und deshalb zu erfrieren und zu verhungern drohten, wuchs Houston zur viertgrößten Stadt der USA heran. In den siebziger Jahren allein vergrößerte sich die Bevölkerung dieser texanischen Großstadt um mehr als eine halbe Million Menschen. Trotzdem blieb die Arbeitslosenquote auch in den 1980ern noch unter drei Prozent. Wie Houston erging es auch anderen Groß– und Kleinstädten im Süden. Von der Auszehrung bedroht war aber nicht nur Detroit, sondern die gesamten nördlichen Staaten, in denen große Teile an Massenproduktionsindustrien angesiedelt waren. Selbst auf das Entwicklungspotential Bostons gab kaum jemand mehr einen Pfifferling. Aber auch dieses Blatt wendete sich schneller als von vielen für möglich gehalten. Gleichzeitig entwickelte sich in den Küstenregionen ein neues Wirtschaftswunder. Im letzten Jahr allein entstanden über 2,5 Millionen neue Arbeitsplätze. In den Neu–Englandstaaten sank die Arbeitslosenquote innerhalb von zehn Jahren von über zehn Prozent auf ca. vier Prozent. Und während noch kritische Analytiker dieser Entwicklung auf die negativen Aspekte dieses „Akkumulationsmodells“ hinweisen - miese Jobs vor allem im fast–food– Bereich, also ein McDonalds– Boom - scheint es sich schon wieder der eindeutigen Analyse zu entziehen. Die größten Zuwächse hat zwar der Service–Bereich, die meisten Jobs sind aber im sogenannten produktionsnahen Dienstleistungsbereich angesiedelt, und dieser hat nach Ansicht aller Wirtschaftsexperten die größten Zukunftsaussichten. Die produktionsnahen Dienstleistungen setzen sich aus unterschiedlichen Bereichen wie Werbung, Finanz– dienste, Wartung, Schreib– und Reproduktionsdienste, Computerservice, Reinigung etc. zusammen. Bei Zuwachsraten von mehr als 250 Prozent zwischen 1974 und 1984 haben die „anspruchsvollen“ Dienstlei stungen das größte Wachstum. Das wird einer Prognose des Bureau of Labor Statistics zufolge auch zumindest bis 1995 so bleiben. Jüngste Prognosen warnen schon vor einem bevorstehenden Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Die neuen Arbeitsplätze sind eben nicht nur dauerhafte „bad jobs“, sondern zum hohen Anteil Dienstleistungsarbeitsplätze neuen Typs - im Bereich der produktionsnahen Dienstleistungen - die ein Hochmaß an Fachwissen, Flexibilität und Kreativität erfordern. Der größere Teil der zukünftigen Arbeitsplätze wird trotzdem, wie bisher, im Bereich der mindereren Qualifikationen angesiedelt bleiben. Daraus eine Polarisierungstendenz abzuleiten wäre aber töricht. Das Beschäftigungssystem ist alles andere als statisch. Jährlich wechselt jeder fünfte Beschäftigte seinen Arbeitsplatz und jeder zehnte wechselt seinen beruflichen Status. Amerika ist eine mobile Gesellschaft. Keine Eindeutigkeit Es ist auch problematisch, aus der hohen Zahl der Beschäftigten, die den Mindestlohn beziehen, auf eine massenhafte und dauerhafte Verarmung zu schließen. Es stimmt zwar, daß 1986 über fünf Mio. Erwerbstätige nicht mehr als den Mindestlohn von 3,35 Dollar die Stunde erhielten, es stimmt aber auch, daß 1981 noch 7,8 Mio. Personen zu dieser Gruppe gehörten. Wie das Bureau of Labor Statistics in einer neuen Studie belegt, ist der Anteil der Mindestlohnbeschäftigten in allen ethnischen Gruppen etwa gleich hoch. Mit 60 Prozent sind vor allem die Jugendlichen (bis 24 Jahre) am stärksten vertreten. Die Altersgruppe der 35 bis 54jährigen ist nur zu vier Prozent vertreten. Geringes Einkommen scheint also kein lebenslanges Schicksal zu sein. Wahrscheinlich haben sowohl die Pessimisten als auch die Optimisten recht. Es wird in absehbarer Zukunft keinen eindeutigen, widerspruchsfreien Entwicklungspfad geben. Daß sich die Ökonomie der USA an veränderte nationale und internationale Bedingungen hervorragend anpassen kann, hat sie während der gesamten Geschichte des Landes bewiesen. Es kann also bei einer Beurteilung dieser Fähigkeit nicht darum gehen zu fordern, diese „animal spirits“ zu zähmen, sondern ihre negativen Folgen zu verhindern. Es ist keineswegs einleuchtend, daß die bestehenden Ungleichheiten notwendige Voraussetzung für die Entfesselung und Aufrechterhaltung der Entwicklungspotentiale sein müssen, noch ist plausibel, daß Ungleichheit notwendiges Resultat des Entwicklungsprozesses sein muß. Ob der erwirtschaftete Reichtum wenigen oder vielen zugute kommt, ist eine Frage der gerechten Verteilung. Auch verhindert eine Stabilisierung der Beschäftigung und die Partizipation der abhängigen Arbeitnehmer an den wirtschaftlichen Entscheidungen keineswegs den Produktivitätsfortschritt. Im Gegenteil, beides kommt ihm zugute. Ebenso läßt sich auf Basis ökonomischen Lehrbuchwissens oder sonstiger elaborierter Theorien nicht begründen, daß die Vernachlässigung öffentlicher Investitionen im Infrastrukturbereich besonders förderlich für die Wirtschaftsentwicklung sei. Das Gegenteil ist der Fall. Dafür, wie sich ökonomischer Fortschritt sozial verträglicher regulieren läßt, bietet die „Alte Welt“ genügend Anschauungsmaterial.
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