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Abrüstungseffekt gleich null

■ Warum können ausgerechnet heute die Raketen abgezogen werden, die von der Friedensbewegung jahrelang attakiert wurden? Sie sind rüstungstechnologisch und militärstrategisch überholt / Den USA gibt das Abkommen zudem die Möglichkeit, den Eskalationsverbund zwischen den Staaten und Westeuropa zu verringern

Günther Baechler

Trotz Gorbatschows neuer Friedfertigkeit ist bei den westlichen Regierungen keine wirkliche Abrüstungsbereitschaft zu erkennen. Die USA und auch die anderen NATO–Staaten setzen vielmehr auf den Ausbau ihres technologischen Vorsprungs in der Rüstungsentwicklung. Präsident Reagan hatte bereits Ende Mai 1986 verkündet, daß die US–Regierung in Zukunft ihre Entscheidungen über die Struktur ihrer strategischen Angriffskräfte von der Art und dem Umfang der entsprechenden sowjetischen Bedrohung und nicht mehr von „angeblicher Rüstungskontrolle“ der SALT–Verträge abhängig machen würden. Stärker als bisher sollen sowjetische Übergewichte durch technologische Überlegenheit ausgeglichen werden. Beweglichkeit und rasche Aktionsfähigkeit sind zukünftig wichtiger als zahlenmäßige Stärke. Vom Meeresboden bis zu den Sternen soll auf allen Ebenen aufgerüstet werden, um durch ein aufgefächertes Kriegsführungspotential dem Erzfeind seine Kriegslüsternheit auszutreiben. Warum wird dann aber über ein Abkommen zum Abbau der Mittelstreckenraketen verhandelt? Warum können ausgerechnet heute die Waffen abgezogen werden, die jahrelang von der Friedensbewegung als „gefährliche Erstschlagswaffen“ attackiert wurden. Und wo liegen die Grenzen der scheinbaren Abrüstungswilligkeit der NATO? Es wäre falsch zu behaupten, die US–Regierung hätte kein Interesse an einer Stationierung der Euro–Raketen gehabt. Nur waren für sie die Pershing II und Cruise– Missiles im Grunde schon während ihrer Stationierung durch die rüstungstechnologische Entwicklung überholt und damit militärstrategisch obsolet geworden. Daß trotzdem diese hypermodernen Denkmäler einer aus der Sicht der USA veralteten Strategie in Europa errichtet wurden, ist vor allem Westeuropäern wie Ex– Kanzler Helmut Schmidt zu verdanken. Für sie war die „Ankoppelung“ der Verteidigung der USA an die Westeuropas ein zentrales Ziel, das sie mit dem NATO– Doppelbeschluß 1979 zu erreichen trachteten. Die Amerikaner hingegen hatten schon immer eher ein Interesse an in Europa stationierten nuklearen Kurzstreckenwaffen als an Mittelstreckenraketen, die von Europa aus die Sowjetunion ins Visier nehmen. Sie fürchten nämlich die Eskalationsgefahr, die in Krisenzeiten von den euro–strategischen Waffen ausgeht. Weinberger contra Rogers Hardliner wie Rüstungsminister Weinberger und der US–Verhandlungsleiter in Genf, Nitze, haben sich in dieser Frage gegen die Euro–Strategen in der US–Regierung wie den im Frühjahr geschaßten NATO–Oberbefehlshaber General Rogers durchsetzen können. Vergeblich warnen die Gegner der Null–Lösung in den USA und Westeuropa vor dem Verlust der „glaubwürdigen“ Abschreckung der NATO, der Gefahr einer Abkoppelung der USA von Westeuropa und dem erdrückenden Übergewicht des Warschauer Pakts im Bereich konventioneller Waffen, falls die Euro–Raketen tatsächlich abgezogen würden. Sie halten die „Vergeltungsabschreckung“ noch immer für die sicherste Kriegsvermeidungsstrategie: je schrecklicher die Vergeltung, um so unwahrscheinlicher ein Nuklearkrieg. In ihrem Konzept der „bedachten Eskalation“ haben die weitreichenden Mittelstreckenraketen die Funktion, die zweite und dritte Welle der sowjetischen Streitkräfte schon auf sowjetischem Territorium nuklear auszuschalten. Durch die Androhung einer schnellen und unberechenbaren Eskalation, in der die NATO als erste Atomwaffen einzusetzen bereit ist, soll der Gegner von einer militärischen Aktion abgehalten oder im Krieg zum Aufgeben zu westlichen Bedingungen gezwungen werden. Demgegenüber hat für Befürworter der Null–Lösung in der US– Regierung wie Außenminister Shultz, Weinberger und Nitze nukleare Abschreckung ihre Glaubwürdigkeit längst verloren. Das atomare „Patt“ zwischen den Großmächten sei eine Folge der für das Kräfteverhältnis zwischen Ost und West „schädlichen“ SALT I und II–Verträge. Sie halten paradoxerweise die Rüstungskontrolldiplomatie für eine „lästige Religion“, sind aber für ein Mittelstreckenraketen–Abkommen, weil es den Eskalationsverbund zwischen den USA und Westeuropa reduzieren würde. Die Abschreckung, so die These, könne vor dem Hintergrund der globalen sowjetischen Herausforderung nur durch ein regional wie sektoral aufgefächertes Kriegsführungspotential und durch qualitative Überlegenheit in der Waffentechnik wieder wirksam werden. Die Hardliner träumen von einer durch SDI unverwundbar gemachten „Festung Amerika“, von der aus die Sowjetunion in Schach gehalten wird und regionale Kriege erfolgreich ausgetragen werden können. Eine erweiterte Raketenabwehr, wie sich die Strategen die erste Stufe von SDI vorstellen, soll in Verbindung mit modernisierten strategischen und konventionellen Waffen die Verteidigungsfähigkeit der „Festung“ erhöhen. Zudem verspricht sich Weinberger von SDI einen Propagandaeffekt, weil auf „die demokratischen Erfordernisse nach einer nicht–offensiven, nicht–nuklearen Möglichkeit zur Bewahrung des Friedens“ eingegangen wird. Risse in der Panzerung Die Modernisierung der Streitkräfte findet im Rahmen der „kompetitiven Strategie“ statt. Dieses Konzept ist an sich nicht neu, es besticht im Jahresbericht 1987 des Pentagon jedoch durch seine Klarheit. Nach Weinberger sollen Schwachstellen der sowjetischen Streitkräfte durch den Aufbau eigener Stärken besser ausgenützt werden, und: „Selbst in ihren Stärken sollen wir nach Schwächen suchen, nach Rissen in ihrer Panzerung.“ Durch gezielte Rüstungsmaßnahmen soll der Kreml gezwungen werden, wichtige Teile der Abwehr zu modernisieren, was den Ausbau offensiver Systeme einschränken würde. Konkret arbeitet das Pentagon an einer neuen, weltweit gültigen Marinestrategie mit einem vorwärtsorientierten konventionel len Verteidigungskonzept. Im europäischen Raum werden see– und luftgestützte Cruise–Missiles, aber auch „intelligente“ konventionelle Waffen die Funktion der landgestützten Euro–Raketen übernehmen. Erweiterte Luftabwehrsysteme sollen im europäischen Raum sowjetische Kurz - und eventuell sogar Mittelstreckenraketen abfangen können. Zusammen mit neuen konventionellen Waffen, die fast die gleiche verheerende Wirkung wie Atomköpfe haben und bis auf das Territorium der UdSSR reichen, muß dieses Konzept besonders bedrohlich für die andere Seite wirken, weil es Erstschlagsfähigkeiten aufbaut. Entmilitarisiertes Europa Die Abschreckung war schon seit Mitte der 50er Jahre mit Kriegsführungsoptionen verbunden. Und Pläne für einen auf Europa begrenzten Konflikt wurden bereits unter den Präsidenten Nixon und Carter diskutiert. Neu ist jedoch die sich abzeichnende Vervollkommnung dieser Strategien, die es den US– und NATO–Verbänden erlauben, nuklear und konventionell, offensiv und defensiv kleine und große Kriege zu führen. Deshalb kann die US–Regierung militärisch gesehen auf die Pershing II und Cruise–Raketen problemlos verzichten, zumal sie in der Vision eines lokalisierbaren und gewinnbaren Konflikts tatsächlich stören. Die Grenzen der Abrüstungswilligkeit sind aber schnell erreicht. Eine Entnuklearisierung Europas würde das zunehmend offensivere NATO– Konzept empfindlich stören. So gesehen ist der Abrüstungseffekt des Mittelstreckenraketen– Abkommens möglicherweise gleich null. Von einer solchen Null–Lösung sollte sich die Friedensbewegung allerdings nicht beeindrucken lassen. Aus dem Dilemma der gegenwärtigen Sicherheitspolitik führt nur ein Weg: die Thematisierung der Gefahren, die mit dem System der Abschreckung verbunden sind und die Diskussion der Perspektive eines entnuklearisierten und entmilitarisierten Europas. Gelingt dies nicht, hilft am Ende auch kein Gorbatschow. Günther Baechler arbeitet am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg, IFSH.

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