piwik no script img

Gorbatschow meldet sich zurück

■ Hoffnung auf „sozialen und politischen Umsturz“ in der UdSSR als Folge von Glasnost & Perestroika / Meinungspluralismus ja, aber stets sozialistisch! / Er war nicht krank, sondern hat nur nachgedacht / Schewardnadse betont erneut Bereitschaft zum Afghanistan–Abzug

Berlin (dpa/taz) - Sowohl innerhalb als auch außerhalb der Sowjetunion gebe es Leute, die „unsere Offenheit und Glasnost“ für ihre eigenen politischen Zwecke ausnutzen wollten, erklärte der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow bei seinem ersten öffentlichen Auftritt nach seinem über zwei Monate dauerndem Urlaub vor einer französischen Delegation. Diejenigen, die hofften, daß Demokratie und Perestroika zu einem „sozialen und politischen Umsturz“ in der Sowjetunion führen würden, irrten sich. Diese antisozialistischen Kräfte hätten zwar keinen großen Umfang, aber es gebe sie. „Dagegen wird ein Kampf geführt.“ Wen er aber nun tatsächlich meinte, führte Gorbatschow nicht aus. Westliche politische Beobachter vermuten, daß die Unruhen in Kasachstan 1986 und die Demonstrationen in den baltischen Ländern sowie die Proteste der Krimtataren die politische Spitze in Moskau beunruhigen. Gegen diese These aber spricht die veränderte Praxis der Behörden gegenüber diesen Konflikten in den letzten Monaten (siehe auch Kulturseite 11). Der zweite Mann in der Sowjethierarchie, Jegor Ligatschow, hat allerdings vor kurzem einzelne Journalisten gewarnt, daß sie zu weit gegangen wären und hatte damit Spekulationen über Unstimmigkeiten in der sowjetischen Führung über den Umgestaltungskurs ausgelöst. Gorbatschow unterbrach bei der Aussprache mit der französischen Delegation den Chef der französischen KP–Zeitung LHumanite, Roland Leroy, der in einer kurzen Rede in positiver Weise auf den sich entwickelten Meinungspluralismus in der Sowjetunion hinwies. „Ja, es gibt ihn, den Pluralismus, aber dem Wort fügen wir das einzige Adjektiv hinzu: sozialistischer Pluralismus. Das bedeutet, daß sich unsere Demokratie und unser Pluralismus auf unsere sozialistischen Werte stützen.“ Es gebe auch keine politischen Gefangenen in der UdSSR. Politisch Andersdenkende säßen, „wenn sie sitzen, in ihren Wohnungen und arbeiten in sozialistischen Betrieben und genießen alle Segnungen des Sozialismus“, führte Gorbatschow aus (diese Passage wurde in der Prawda nicht abgedruckt) und ignorierte damit die Liste von „Gewissensgefangenen“, die Andrej Sacharow einen Tag zuvor den Behörden und der Presse zugänglich gemacht hatte. Für seine lange Abwesenheit gab Gorbatschow eine einfache Erklärung. Er habe die politische Situation gründlich analysiert, wobei sein Urlaub sogar zu kurz gekommen sei. „Ich habe mich nicht mehr als 100 Meter von dem Haus entfernt, in dem ich Urlaub machte“, erklärte der Parteichef und beendete damit Gerüchte und Spekulationen in der westlichen Presse um seine lange Abwesenheit in Moskau. Daß die Kontinuität der sowjetischen bisherigen Reformpolitik auch außenpolitisch gesichert ist, machte Aussenminister Schewardnadse deutlich, der auf seiner Lateinamerikareise in Brasilien zum Afghanistanproblem Stellung bezog. In Afghanistan sei - ähnlich wie in Nicaragua und Kampuchea - ein Prozeß der nationalen Versöhnung im Gange, der ein Mehrparteiensystem sowie den Aufbau eines „aktiven privaten Sektors“ vorhersehen lasse, erklärte der Außenminister.“ er

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen