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Im Notfall auch alleine

■ Westeuropas neue Verteidigungsdoktrin: Abschreckung auch ohne die USA / Neutronenbombe und „Zwei–Schlüssel–Lösung“: Pariser Meisterdenker entwickeln das Europa der Sprengköpfe

Aus Paris Georg Blume

Das Gespenst der Abrüstung geht um in Westeuropa. Erste Anzeichen eines Abkommens zwischen den USA und der Sowjetunion werden als Menetekel einer neuen Zeit gedeutet: Es droht der Friede. Ratlosigkeit, Unentschlossenheit und hektischer Eifer bei der Suche nach Alternativen zur Politik der Großmächte mischen sich in die Reden der europäischen Verteidigungsminister. Auch die europäische Friedensbewegung ist am Rande der Ereignisse kleinlaut geworden. Gorbatschow und Reagan haben ihr die Initiative der Abrüstungsvorschläge entrissen. Der Einfluß der Bewegung läßt vor allem dort nach, wo sie die Institutionen, Parlamente und Parteien erobert hat. Während die Friedensbewegung mit dem eigenen Schicksal hadert, während Amerikaner und Sowjets unter den inzwischen gelangweilten Augen der Europäer verhandeln, macht die etablierte Verteidigungspolitik der westeuropäischen NATO–Staaten und Frankreichs eine radikale ideologische und strategische Kehrtwendung. Die Öffentlichkeit hat es kaum bemerkt, doch: Die Wende ist bereits da. Sie trägt viele Namen. Französische Sozialisten sprechen heute von der „westeuropäischen Abschreckungsmacht“. Deutsche Christdemokraten lieben die Formel von der „Stärkung des europäischen NATO–Pfeilers“. Der Wille ist der gleiche: Gegen Friedensbewegung und Gorbatschow soll Westeuropa ideologisch und militärisch aufrüsten. Wendezeichen der Militärdoktrinen Der Anzeichen gi Achse Bonn–Paris nicht verpassen und intensiviert die diplomatischen Bemühungen. Die Westeuropäische Union (WEU), die einzige verteidigungspolitische Organisation der Westeuropäer, erlangt erstmals reale politische Bedeutung. Diese Dinge sind nicht selbstverständlich. Dreißig Jahre lang, etwa von 1955 bis 1985, wären sie undenkbar gewesen. Mitte der fünfziger Jahre scheiterten die Verhandlungen um eine westeu ropäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) am Streit um die Teilnahme der Bundesrepublik. Der daraufhin in Westeuropa gefundene verteidigungspolitische Konsens war „atlantischer“ Natur: Man vertraute auf die US– amerikanische Nukleargarantie. In der verteidigungspolitischen Diskussion war Europa kein Thema, sieht man einmal von De Gaulle ab, der aus der NATO ausscherte und Frankreich damit isolierte. Erst die Friedensbewegung der achtziger Jahre und die strategische Verteidigungsinitiative der USA (SDI) stellten diesen Konsens der Atlantiker wieder in Frage. Die westeuropäische Verteidigungsdoktrin geriet in die Krise, als die Öffentlichkeit an der Identität amerikanischer und französischer Interessen zu zweifeln begann. SDI und Mittelstreckenraketen schienen zu erlauben, einen Krieg auf Europa einzugrenzen. Heute sind es die Nachrüstungsbefürworter von einst, die an der Interessengleichheit der Länder auf beiden Seiten des Atlantiks Zweifel hegen. Der Gorbatschow–Schock Kaum hatte Gorbatschow im Februar dieses Jahres in Prag sein Angebot eines von SDI getrennten Abkommens über die Vernichtung der Mittelstreckenraketen gemacht, da veröffentlichte der französische Außenminister als erste offizielle Stellungnahme folgendes Kommunique: „Der sowjetische Vorschlag (...) stellt in keiner Weise eine Überraschung dar. Die französische Regierung will angesichts des Ungleichgewichts an chemischen und konventionellen Waffen in Europa eine Entnuklearisierung Europas vermeiden.“ Das Kommunique faßt bis zum jetzigen Zeitpunkt, da der Mittelstreckenvertrag nahezu unter Dach und Fach ist, die Reaktionen der Westeuropäer treffend zusammen. Zwar erkannten die westeuropäischen Führungsmächte, vor allem Frankreich und Großbritannien, daß sie dem Interesse der Großmächte an einem Abrüstungsvertrag machtpolitisch nichts entgegenzusetzen hatten und stimmten dem Abkommen deshalb zu. Doch sorgten sie anderweitig vor: Paris und London setzen sich heute bereits offen gegen jede weitergehende atomare Abrüstung, gegen jede weitere „Entnuklearisierung“, so das Schlagwort, in Europa zur Wehr. Dieser neue westeuropäische Verteidigungswille ist bereits politikfähig. Die Ministertagung der WEU lieferte vergangene Woche den Beweis. Formell schrieben die westeuropäischen Regierungen in ihrem ersten gemeinsamen verteidigungspolitischen Grundsatzpapier fest, daß „das atomare Element das einzige ist, das einen eventuellen Aggressor vor ein unakzeptables Risiko stellt“. Im Klartext: Westeuropa kann sich - im Gegensatz zu Reagan und Gorbatschow - eine Welt ohne Atomwaffen nicht vorstellen. Frankreich durchbricht in dieser Phase seine verteidigungspolitische Isolation in Westeuropa. Gemeinsam mit Großbritannien sichert es als unabhängige Atommacht a priori den westeuropäischen atomaren Anspruch, gleichzeitig läßt es die Bereitschaft erkennen, die eigene nuklearstrategische Doktrin auf die Wünsche der westeuropäischen Partner hin zu verändern. Bislang bestand die französische Militärdoktrin darin, jede „Verletzung vitaler Interessen“ Frankreichs massiv zu vergelten. Als geographische Grenze dieses Interesses hatte bislang der Rhein gegolten. Doch seit etwa fünf Jahren bildet sich in Frankreich ein parteienübergreifender Konsens heraus, wonach bereits eine Überschreitung der Elbe durch Truppen des Warschauer Paktes Grund genug für einen nuklearen Warnschlag der Force de Frappe sei. Damit würde Frankreich de facto eine „Nukleargarantie“ für die Bundesrepublik abgeben. Genau dies ist der Grundgedanke der neuen französischen Militärdoktrin und kommt einer Revolutionierung der bisher herrschenden gleich. Zwei entscheidende Fragen tun sich jetzt auf: Kann die Bundesrepublik einen atomaren Schutzschild wünschen, dessen erster Warnschuß Ziele in der DDR oder der östlichen Bundesrepublik treffen würde? Wohl kaum. Deswegen möchte Mitterrand Bonn vorschlagen, die französische Neutronenbombe, die er als konventionelle Abschreckungswaffe betrachtet, an der Elbe zu stationieren. Die zweite heikle Frage: Soll Frankreich auch weiterhin allein über den präventiven Einsatz taktischer Atomraketen entscheiden? Ein taz–Interview im Juli brachte neue Elemente einer Antwort ans Tageslicht. Der ehemalige Verteidigungsminister und enge Vertraute Mitterrands, Charles Hernu, empfahl die Vergabe eines „Zweitschlüssels“ für Frankreichs taktische Waffen an die Bundesregierung. Weil Frankreich in beiden Fragen neue Vorschläge entwickelt hat, kann es heute als politischer Motor für die künftige Verteidigungspolitik Europas fungieren. Bonn dagegen spielt eine zurückhaltende Rolle. Allerdings deutet sich auch hier ein radikaler Umdenkungsprozeß der Verteidigungsstrategen ab. Der Kreis derjenigen, die über eine eigenständige westeuropäische Verteidigungsstrategie nachdenken, reicht von Dregger und Wörner über Helmut Schmidt bis zu Oskar Lafontaine. Westeuropa steht am Scheideweg. In der ersten Hälfte der achtziger Jahre erreichte die Friedensbewegung Hegemonie in der ideologischen Debatte um die Friedenssicherung. Dann reagierten die Großmächte (wenn auch aus diversen Gründen) und kamen ins Gespräch. Nun sind es die westeuropäischen Militaristen, die zum ideologischen Gegenangriff blasen.

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