: Restrisiko und Recht
■ Zum Urteil im Nürnberger AIDS–Prozeß
Die Reihe der juristischen Bewältigungsversuche von sogenannten AIDS–Delikten ist noch kurz und beschränkt sich nicht von ungefähr auf Bayern. Jedes Urteil kann neue Maßstäbe setzen. Diese Chance ließ sich das Nürnberger Landgericht nicht nehmen. Es erteilt den Safer–Sex–Richtlinien mit ihren Risikominimierungen eine klare Absage, ersetzt Aufklärungsversuche durch harte Urteile und wissenschaftliche Wahrscheinlichkeitsspannen durch richterliche Entscheidungen. Unser Rechtssystem vertrage keine Restrisiken, urteilen die Richter und argumentieren mit der Generalprävention. Der zum Beispiel von Bundesanwalt Bruns vertretenen Theorie der „eigenverantwortlichen Selbstgefährdung“ wird eine eindeutige Absage erteilt. Der Gesunde muß sich auf die Aufklärung der Infizierten verlassen können, er braucht sich nicht zu schützen. Ob damit - wie es das Gericht beabsichtigt - „die totale Kondomgesellschaft“ zu vermeiden ist, bleibt mehr als zweifelhaft. Die Bereitschaft, sich testen zu lassen, wird mehr denn je zurückgehen. Nach Gauweilerschen Maßnahmenkatalogen zur Aussonderung der Infizierten wird jetzt die ärztliche Schweigepflicht ausgehöhlt. Allein das Wissen der eigenen Infektion reicht zudem aus, um zum Vorsatztäter ohne Tatnachweis zu werden. Urteilsvergleiche hinken, aber trotzdem: In München ballert nachts ein Studiendirektor in Richtung zweier Autoknacker. Einer wird verletzt, der andere getötet. Das Urteil lautet auf elf Monate mit Bewährung, denn er habe fahrlässig, ohne bedingten Vorsatz gehandelt. Bernd Siegler
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