Umwelt hat Geschichte: Vom TNT zum Atommüll

Altlasten aus der Rüstungsproduktion der deutschen Wehrmacht – eine ökologische Zeitbombe / Die Langlebigkeit der Schadstoffe im Boden korrespondiert mit der Kontinuität deutscher Rüstungsgeschäfte von der Nazi-Zeit bis heute / Von der reichseigenen „Montan“ zur „Industrie-Verwaltungsgesellschaft“  ■ Aus Bonn Charlotte Wiedemann

Geesthacht, Dörverden, Stadtallendorf – drei Orte von über siebzig Standorten ehemaliger Rüstungsproduktion der Nazi-Zeit. Hier wurden Sprengstoff und chemische Kampfstoffe für den Krieg produziert, schufteten sich Zwangsarbeiter für den Nachschub der Wehrmacht zu Tode. Die verdrängte Geschichte der Kriegsproduktion bringt sich nun nach über 40 Jahren durch ihre ökologischen Folgen wieder in Erinnerung: Die Vergangenheit wurde nicht bewältigt und auch nicht entsorgt. Die Abfälle und chemischen Zwischenprodukte aus den Kriegsfabriken schlummern heute als tickende Zeitbombe im Boden. In Stadtallendorf filtern die Wasserwerke jährlich ein Kilogramm TNT aus dem Trinkwasser. In Geesthacht, wo die „Dynamit AG“ im Faschismus eine der größten Munitionsfabriken Europas betrieb, stellte eine All-Parteien-Koalition jetzt Gelder für eine großangelegte Wasser-Untersuchung bereit, nachdem erste Proben krebserregende Stoffe nachgewiesen hatten.

Die Rüstungsfabriken, die nach Kriegsende von den Alliierten ohne Rücksicht auf Umweltschäden gesprengt und demontiert wurden, gehörten überwiegend der reichseigenen „Montan“, die zuletzt 128 Fabrikanlagen verwaltete. Hier produzierten unter anderem die IG Farben, die Dynamit AG, die Degussa und die WASAG. Nachfolger der „Montan“ ist heute eine Firmengruppe mit unscheinbarem Namen: „Industrie-Verwaltungsgesellschaft“ (IVG) mit Sitz in Bonn. Seit 1951 verfügt sie unter dem neuen Namen über den bundesrepublikanischen Montan-Besitz, bis 1986 als bundeseigene Firma, dann zur Aktiengesellschaft teilprivatisiert, doch weiterhin mit der Bundesrepublik als Mehrheitseigner. Der IVG gehört heute nicht nur die Mehrzahl der altlastverdächtigen Rüstungsstandorte, sondern das Unternehmen unter Bonner Regie sitzt mit den Krakenarmen seiner zwölf Tochterfirmen fest im militärisch-industriell-atomaren Komplex der BRD. Daß sich auf den nicht – oder kaum sanierten Liegenschaften der ehemaligen Rüstungswerke heute so brisante neue Nutzungen wie atomare Zwi schenlager finden, verwundert nicht mehr, wenn man einen Blick auf die weitverzweigten Aktivitäten dieser Firmengruppe wirft.

Die „Materialdepotgesellschaft“, eine 100prozentige IVG- Tochter, wurde 1985 als Partner der US-Streitkräfte gegründet, um für die US-Army Militärdepots einzurichten und zu verwalten.

Die „Industrieanlagen Betriebsgesellschaft“ in Ottobrunn, eine 74prozentige IVG-Tochter, wurde 1961 auf Betreiben des damaligen Verteidigungsministers Strauß gegründet für Zwecke der Luft- und Raumfahrt. Die Firma nennt sich selbst die „Drehscheibe des Transfers militärischen Know hows in zivile Bereiche“ und bietet außerdem das Verfrachten von Nuklearmaterial in ihrem Firmenrepertoire an.

Im Atomgeschäft steckt auch die „IVG-Transport-GmbH“ mit ihren Spezialgüterwagen für radioaktive Abfälle.

Eine Viertel-Beteiligung hält die IVG an der „Deutschen Gesellschaft zum Bau und Betrieb von Endlagern“ und betreibt damit den Atommüll-Endlager-Bau in Gorleben und Schacht Konrad mit.

Die Liste der IVG-Aktivitäten läßt sich noch gewaltig verlängern. Zu den Unternehmungen, die das Licht der Öffentlichkeit eher scheuen, gehört die Verwaltung von Liegenschaften in Südafrika ebenso wie der Betrieb einer Pipeline für NATO-Zwecke. Angesichts der Geschäfte von nationaler Bedeutung versteht sich, daß der Aufsichtsrat der IVG hochkarätig besetzt ist: Zu seinen Mitgliedern gehört der niedersächsische Innenminister Hasselmann, der bayrische Finanzminister Max Streibl sowie Spitzenbeamten aus den Bonner Ministerien für Wirtschaft, Finanzen und Verteidigung. Ihren Gewinn bezieht die IVG überwiegend aus der Verpachtung und dem Verkauf ihrer Liegenschaften an rund 40 Standorten der Republik. Nach eigenen Angaben ist das Unternehmen heute Eigentümer von 30 Liegenschaften, auf denen während des Kriegs Rüstungswerke produzierten.

Den Vorwurf der Umweltorganisation BUND, daß bisher vor al lem die besonders verseuchten Grundstücke verkauft wurden, bestreiten die Firmenvertreter. Auch der finanziellen Verantwortung für die milliardenschwere Sanierung der vergifteten Flächen und ihrer ökologischen Folgen in der Umgebung will sich die Rechtsnachfolgerin der „Montan“ (und damit die Bundesregierung) entziehen. Das Land Hessen liegt bereits im Rechtsstreit mit der IVG: Die Firma wollte Leistungsbescheide über zwei Millionen Mark nicht bezahlen, die das Land ihr für die Sanierung der ehemaligen Sprengstoff-Fabrik Hessisch-Lichtenau in Rechnung stellte. Allein die weiträumige Verseuchung des Grundwassers verursachte Kosten von zehn Millionen Mark.

Umweltschützer, Kommunalpolitiker und Behörden vor Ort haben mit der IVG einen mächtigen Gegner. Bürgerinitiativen aus den Regionen der Rüstungs-Altlasten haben sich bereits bundesweit zusammengetan und raten den betroffenen Gemeinden und Landkreisen, sich ebenfalls zu einer Interessengemeinschaft gegen die IVG zusammenzuschließen. In der politischen wie finanziellen Verantwortung stehen ebenfalls, bisher unbehelligt, die Nachfolger der Rüstungsproduzenten in den ehemaligen Montan-Anlagen: Die IG Farben macht als „Aktiengesellschaft in Abwicklung“ heute immer noch Geschäfte. Die „Dynamit Nobel“ verdient lieber an der Sprengstoff-Lieferung für den Golfkrieg statt sich um die Sanierung ihres alten Fabrikgeländes in Geesthacht zu scheren.

Doch mit der Bereitschaft, sich überhaupt der politisch wie ökologisch brisanten Materie anzunehmen, ist es auch vor Ort nicht weit her. Erst als eine Schülergruppe für den Wettbewerb des Bundespräsidenten „Umwelt hat Geschichte“ die vermutete Verseuchung des Geländes einer ehemaligen Pulverfabrik in Dörverden recherchierte, reichte der öffentliche Druck, um zumindest oberflächliche Bodenproben untersuchen zu lassen – Ergebnis: Arsen. Weitergehende Untersuchungen scheiterten bisher an Geldmangel – eine Behörde schiebt der anderen die Zuständigkeit zu. Und der Standort Dörverden ist sensibel: Unweit des alten Rüstungsgeländes lagern heute amerikanische Atomsprengköpfe.