: Streit ums Erbe
■ Zu den Demonstrationen in Ost-Berlin
Bei den Festnahmen nach der Gedenkfeier für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ist es nicht geblieben. Die DDR-Behörden verschärfen die Auseinandersetzung ins Grundsätzliche: Gegen drei Mitglieder jener protestierenden Dissidentengruppe wird wegen „Zusammenrottung“ ermittelt, wofür zweijährige Haftstrafen möglich sind. Außerdem erklärten DDR-Vertreter, man überprüfe, ob es „Hintermänner der generalstabsmäßig organisierten Aktion in West-Berlin“ gegeben habe – die traditionelle Formel für ideologische Generalprävention und Hexenjagd. Überreaktion? Sieg der Stasi-Fraktion über Honecker-Tauben? Das wären befangene Deutungen von außen.
Die subversive Kraft des Protestes jener kleinen Gruppe (und auch der persönliche Mut) sollte nicht unterschätzt werden. Die Meldungen über Empörung und Erregung der DDR-Funktionäre kann wörtlich genommen werden. So direkt hatte sich der Dissens noch nie ins staatliche Ritual des heiligen Klassenkampfes eingemischt. Am Sonntag haben jene hundert, hundertfünfzig Protestierenden eine Schattenlinie im Kleinkrieg zwischen Dissens und Staat überschritten: Sie sind aus dem Protestghetto von Umwelt, Frieden, Abrüstung und Kirche herausgetreten, in dem sie geduldet wurden, in dem man ihnen das Leben schwermachte.
Der Protest berührt eine Schlüsselstelle einer antiautoritären Rebellion, deren Latenz in der DDR längst schon zu spüren ist: Die Dissidenten haben begonnen, öffentlich das „sozialistische Erbe“ streitig zu machen. Mit jener Einmischung berühren sie einen schwelenden Widerspruch. Denn schon längst droht die staatliche Inszenierung des revolutionären Erbes ihrer eigenen Dialektik anheimzufallen: So sehr sie die Klassenkampfgeschichte ritualisiert, so sehr treibt sie das subversiv Freiheitliche nach oben. Die Ohnmacht in der Übermacht der DDR-Behörden ist bedrohlich. Der Streit ums Erbe hat begonnen. Klaus Hartung
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