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Geschichten vom Stiefel

Der „Onorevole“ und der Zeitgeist /“Wer hier arbeitet, muß rauskönnen“ – morgens um halb zehn im Hauptquartier der Kommunistischen Partei Italiens  ■ Aus Rom Werner Raith

Halb zehn Uhr vormittags. Im sechsten Stock des Hauptquartiers der Kommunistischen Partei in Roms Via delle botteghe oscure gähnt der Korridor noch fein poliert und unberührt von Kippen am Boden, die Türen zu den Büros sind offen; nur die Sekretärin Silvana hat sich bisher ins „ufficio“ verirrt. Angestrengt denkt sie sich in die Modezeitschrift Gioia hinein. Ein unwirsches „Ouh?“ stoppt meinen Versuch, unbemerkt an ihr vorbei direkt in die angepeilte Abteilung zu gelangen. „Ich habe einen Termin mit...“. „Der Onorevole ist noch nicht da.“ „Aber ich habe doch noch gar nicht gesagt, zu welchem...“ – „Der Onorevole ist noch nicht da.“ Der Ton verrät: Weitere Erklärungen wird es nicht geben. Der „Onorevole“, der „Ehrenwerte“ – amtliche Anrede von Abgeordneten, die auch innerhalb des Genossen-Jargons respektiert wird – ist nicht da, gleichgültig, welchen Onorevole ich nun will.

Es dauert fünf Minuten, bis ich mir wieder ein Herz fasse: „Aber Luciano hat mir gesagt, ich sollte...“ – „Der Onorevole ist nicht da. Setz dich da auf die Bank und warte.“ Der sechste Stock der „Botteghe oscure“ ist der sogenannten „Zweiten Garnitur“ reserviert – Auf- und Absteiger der Partei, Kommissionsvorsitzende, Gruppen-Obleute. Für Journalisten einer der wichtigsten Plätze Roms – hier gibt es die meisten und zutreffendsten Informationen: Die Zunge sitzt hier sehr viel lockerer als in der „Chefetage“ zwei Stockwerke drunter, gleichzeitig sind die Auskünfte aus erster Hand und nicht, wie im fünften, durch Sekretäre und Pressesprecher gefiltert. Nachrichten haben hier nicht nur bezüglich der PCI, sondern der gesamten italienischen Politik eine hohe Trefferquote. Termine in diesem Korridor läßt man nur ungerne sausen, auch wenn der gesamte Tagesplan durcheinandergerät. Unvermittelt tönt Silvanas Stimme aus dem Zimmer: „Hast du den Saustall gesehen, den sie heute angerichtet haben?“ Saustall? Welchen meint sie? Die Streitereien in der Regierung? Die mögliche Stationierung der F-16-Bomber? Die Ausschaltung des Ermittlungsrichters Falcone in Palermo? Falsch, ganz falsch: „Sie lassen keinen mehr mit dem Auto ins Zentrum herein.“ Richtig. Aber das hat doch eben Antonio Cederna, der über eure Liste gewählt wurde, im Radio als Sieg über den Smog gefeiert? „Natürlich. Aber jetzt darf keiner mehr herein.“ Gut so oder nicht? „Natürlich nicht. Alle kommen zu spät.“ Aber Zuspätkommen war doch auch bislang schon bewährte Praxis in allen italienischen Büros... „Aber doch nicht, weil sie nicht hereindurften.“ Sondern? „Weil die Straßen alle verstopft waren.“ Sicher, das war ja der Grund für den Smog. Jetzt gibt es keinen Verkehr mehr... „Na also – und wem nützt das jetzt was, wenn gar keiner mehr fahren darf?“ Logisch. Also? „Wer hier arbeitet, muß reinkönnen.“ Aber das war doch bisher genauso – ins Zentrum kam man nur mit einem „Passo“ herein. Das aber hat offenbar nichts genutzt. „Klar. Weil alle einen Passierschein hatten.“ Also muß man das abstellen. „Das geht nicht.“ Wieso? „Weil jeder einen kennt, der ihm den Passo besorgt.“ Saustall... „Nein, das ist eben der Zeitgeist – jeder will nur seinen Vorteil.“

Und nun? Ist die ganze Innenstadtsperrung eine Farce? Silvana bekommt große Augen: „Defaitist. Denkst du, wir machen sowas für nichts und wieder nichts?“ So ganz komme ich nicht mit... „Die Sache ist doch ganz einfach. Für die neue Sperrung gibts neue Passierscheine. Die muß man beantragen; das dauert – und inzwischen kommen wirklich viel weniger Autos herein. Später wird man dann weitersehen...“ Das Telefon läutet. Silvana hebt ab, „Pronto... dimmi... va bene...“. Sie blickt mich an, hebt die Schultern: „Der Onorevole kommt nicht.“ Kommt nicht? Wieso? „Flugstreik. Nichts geht. Saustall.“ Ja, aber Streik... Arbeitskämpfe, Solidarität... PCI... eure Großgewerkschaft CGIL.. „Gewerkschaft?“ Silvanas Stimme trieft vor Hohn. „Das ist nicht unsere Gewerkschaft. Das sind die COBAS, die Basiskomitees. Elitebürschchen. Nix Arbeiter. Privilegierte.“ Aber... „Nichts aber. Und wir müssen drunter leiden, wenn wir nicht fliegen können und unsere Leute zu spät kommen! Alles steht Kopf.“ Entschuldige, Silvana, wenn ich hier den Zeitgeist nicht so sehe – dieser Streik ist wirklich von eurer CGIL ausgerufen... „So?“ Silvana holt die Unita unter ihrem Modemagazin hervor, liest. „Tatsächlich. Das ist unser Streik.“ Sie zündet sich die nächste Zigarette an. „Na, auch gut. Merkwürdig nur, daß das der Onorevole nicht wußte. Seltsam. Vielleicht ist auch das der Zeitgeist.

Seit letztem Mittwoch erscheinen einmal in der Woche auf der Auslandshintergrundseite Stories, Histörchen und Geschichten von unseren Auslandskorrespondenten. All das, was in der großen Politik und den großen Artikeln zu kurz kommt: Anekdoten, Szenen, Personen, O-Töne – zunächst aus Italien, Frankreich, den USA und Großbritannien.

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