: Verstärkte Reiseaktivität von Osten nach Westen
In Ost-Berlin sind am Sonntag weitere Freilassungen im Zusammenhang mit den Verhaftungen vom 17. Januar bekannt geworden. Nach Angaben des zuständigen kirchlichen Kontaktbüros befinden sich der 17jährige Till Böttcher und der 19 Jahre alte Andreas Kalk seit Sonnabend auf freiem Fuß und in Ost-Berlin. Die beiden jungen Männer waren wegen „versuchter Zusammenrottung“ vom Stadtbezirksgericht Lichtenberg zu je sechs Monaten Haft verurteilt worden.
Von den 22 bekanntgewordenen Verhafteten im Zusammenhang mit dem 17. Januar sitzt nur noch die Mitbegründerin der Initiative „Kirche von unten“, Vera Wollenberger, im Gefängnis. Auch mit ihrer Entlassung werde gerechnet, hieß es von informierter Seite.
Offenbar unter dem Druck der öffentlichen Meinung in Ost und West handelt die DDR seit dem Wochenende bei der Freilassung inhaftierter Bürgerrechtler mit mehr Anpassungsfähigkeit. Nicht alle Systemgegner, denen die Ausreise in die Bundesrepublik nahegelegt wird, verlieren mit dem Verlassen der DDR zugleich ihre Staatsbürgerschaft. Vier Bürgerrechtler, die am Freitag aus der Haft entlassen wurden, trafen mit neu ausgestellen Reisepässen in der Bundesrepublik ein und dürfen wieder in die DDR zurück. Der arbeitslose Geisteswissenschaftler Wolfgang Templin und seine Frau Regina, evangelische Gemeindepädagogin, die Malerin Bärbel Bohley sowie ihr Lebensgefährte, der Theaterdekorateur Werner Fischer, wiesen am Samstag als Gäste der Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel in getrennten Erklärungen darauf hin, daß sie die Möglichkeit einer Entlassung aus der DDR-Staatsbürgerschaft abgelehnt hätten.
Bärbel Bohley sagte, sie und ihr Lebensgefährte hätten den Reisepaß unter der Voraussetzung beantragt, daß sie Staatsbürger der DDR bleiben und eine Wiedereinreise nach spätestens sechs Monaten möglich ist. Bärbel Bohley sprach im Hinblick auf den ihr zu gestandenen „Kompromiß“ bei der Ausreise von einer „neuen Qualität der DDR bei der Bewältigung von Konfliktsituationen.
Das Paar Bohley/Fischer will das nächste halbe Jahr in Großbritannien verbringen. Die Templins betonten in einer gesonderten Erklärung, auch sie hätten das Angebot des Ost-Berliner Anwalts Wolfgang Vogel abgelehnt, auf die DDR-Bürgerschaft zu verzichten. Daraufhin sei ihnen „ein längerer Studien- und Arbeitsaufenthalt in der BRD genehmigt“ worden. Sie hofften, dieser Weg eröffne eine „Perspektive, in der Zukunft politische Konflikte in der DDR durch politische Lösungen zu bearbeiten“.
Sie dankten den Evangelischen Kirchen der DDR und der Bundesrepublik für deren „wichtige Hilfe beim Zustandekommen dieser Vereinbarungen“. Seiner vorbereiteten Erklärung, über die hinaus er keine Fragen beantwortete, fügte Wolfgang Templin dann noch einen spontanen Satz an: „Wir möchten ausdrücklich Dank sagen für die große Solidarität international und in der DDR.“
Sorge über die jüngsten Verhaftungen in und Abschiebungen aus der DDR hat der SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel geäußert. In einem Interview des Hessischen Rundfunks würdigte Vogel am Sonntag aber zugleich das Bestreben von Staats- und Parteichef Erich Honecker, den Schaden nicht größer werden zu lassen. Nach den Festnahmen von Oppositionellen bestehe grundsätzlich die Gefahr, daß Fortschritte gefährdet werden könnten, meinte der SPD-Vorsitzende. Vogel räumte ein, daß die Frage der Abschiebung oder der beantragten Ausreise „natürlich ein sehr sensibler Punkt“ sei. Vogel bekundete großen Respekt vor den Männern und Frauen, die im kirchlichen Bereich einen ganz wichtigen Beitrag leisten“. Freitag abend hatte vor gut 500 Menschen in der Erlöserkirche die vorerst letzte Fürbittveranstaltung in Ost- Berlin stattgefunden. Die zuständige Koordinierungsgruppe und die Kirchenleitung hatten beschlossen, wegen der bereits erfolgten und sich weiter abzeichnenden Lösungen auf weitere regelmäßige Andachten zu verzichten.
Die amtliche Nachrichtenagentur meldete die am Freitag abend in Ost-Berlin bekanntgewordenen Freilassungen von Bohley und Fischer Sonnabend früh um 01.30 Uhr. Diese Meldung, wonach die genannten fünf Personen „entsprechend ihrem Ersuchen und in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Bestimmungen der DDR in die BRD ausgereist sind“, wurde am Sonnabend in DDR-Zeitungen abgedruckt.
In einem von Ost-Berliner Zeitungen übernommenen Kommentar eines sowjetischen Korrespondenten wird erneut im Zusammenhang mit den jüngsten Ereignissen der Vorwurf erhoben, viele der „Kämpfer für Bürgerrechte“ stünden „eng mit westlichen Geheimdiensten in Verbindung. Ihre Wühltätigkeit dirigierten bestimmte Kreise in West-Berlin.“ ap/dpa/taz
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