: Die obszöne Kunst der Umverteilung
■ Massive Steuererleichterungen für die Besserverdienenden und Kürzungen bei den Sozialleistungen: Die Regierung Thatcher führt die soziale Spaltung fort / Neues Gesetz zur „Sozialen Sicherheit“ soll den Sozialhilfeempfängern ihre „düstere Apathie“ austreiben / Vom Wohlfahrtsstaat zum Subventionsapparat für die Mittelklasse
Aus London Rolf Paasch
„Generell besteht die Kunst des Regierens darin, der einen Klasse von Bürgern soviel Geld wie möglich zu nehmen, um es der anderen zu geben.“ Wenn dieser Satz Voltaires auch heute noch zutrifft, dann hat es die Regierung Thatcher in der Kunst der Umverteilung in diesen Tagen zu neuen Graden der Meisterschaft gebracht. War das Nettoeinkommen der obersten zehn Prozent der britischen Gesellschaft seit Amtsantritt der Konservativen 1979 bisher schon vom Sechsfachen auf das Achtfache dessen gestiegen, was die untersten zehn Prozent der Briten verdienen, so setzte die Regierung Thatcher dieser Bilanz jetzt noch einen drauf. Nur vier Wochen, nachdem ihr Schatzkanzler Nigel Lawson den „stinking rich“ und den etwas weniger Reichen Steuererleichterungen in Milliardenhöhe beschert hatte, greift Frau Thatchers Eisernes Händchen nun erneut den Armen in die Sozialhilfetüte. In der gleichen Woche, in der für den 200.000 DM–im–Jahr–Verdiener eine Steuererleichterung um 450 DM pro Woche wirksam wird, muß das Sozialhilfepärchen mit Kind, das nach Abzug der Miete in der Woche von weniger als der Hälfte von dessen Steuerersparnis (!) lebt, feststellen, daß ihre Sozialleistungsansprüche um drei DM gekürzt werden. Während Großbritanniens Reiche seit Verabschiedung des jüngsten Haushalts die Freiheit des mit 40 Prozent niedrigsten Spitzensteuersatzes in ganz Europa genießen können, werden die am Rande des Existenzminimums lebenden acht Millionen Empfänger von Sozialleistungen ihren Gürtel nun noch enger schnallen müssen. Die Hal tung der Regierung Thatcher den Armen gegenüber, so entfuhr es dem Bischof von Durham in seiner Osterpredigt, sei nur noch mit dem Adjektiv „wicked“ zu beschreiben; was so viel heißen kann wie gottlos, gemein oder obszön. Dieser jüngste Akt sozialpolitischer Niederträchtigkeit hatte Mitte der 80er Jahre damit begonnen, daß die sparbesessene Zuchtmeisterin der Nation, Beamten des Sozialministeriums die Ausarbeitung eines Reformpakets für das in der Tat allzu komplexe und zu Mißbräuchen einladende System der Sozialleistungen auftrug. Das Ganze, so lautete jedoch die entscheidende Vorgabe, dürfe den Staat keinen zusätzlichen Penny kosten. Ergebnis dieser bürokratischen Überlegungen war das bereits 1986 als „Social Security Act“ vom Unterhaus verabschiedete Gesetzeswerk zur Sozialreform. Es sind die umstrittendsten Bestimmungen dieses Gesetzes, die am Montag in Kraft getreten sind. Der Streit darüber, wer die eigentlichen Gewinner und Verlierer dieser Reform sind, geht allerdings schon seit Wochen hin und her. Während die Regierung behauptet, nur zwölf Prozent der Sozialleistungsempfänger seien danach schlechter dran, beziffert der von der Regierung eingesetzte „Ausschuß für Soziale Sicherheit“ die Verlierergruppe bereits auf 43 Prozent. Unabhängige Forschungsinstitute sprechen sogar von negativen finanziellen Auswirkungen des Gesetzes für 75 Prozent aller Sozialfälle. Solche Rechnungen werden dadurch erschwert, daß viele der Eingriffe, die dem Staat im nächsten Jahrtausend Ausgaben von über 60 Mrd. Pfund ersparen sollen, erst über die Jahre wirksam werden. Hinzu kommt noch, daß die ma teriellen Zugewinne für einige Gruppen wieder durch Kürzungen beim Wohngeld (minus 650 Mio. Pfund) und die Abschaffung der bisher kostenlosen Schulmahlzeiten für Kinder aufgehoben werden. Nutznießer der neuen Regelungen sind vor allem die allerärmsten Rentner, Behinderte und Familien mit Kindern, sofern der Haushaltvorstand nicht arbeitslos ist. Die Verlierer sind dagegen Rentner mit kleinen Sparguthaben und alleinstehende Arbeitslose unter 25 Jahren. Die ereute Beschneidung der Sozialleistungen für Arbeitslose ist direkt der Armengesetzgebung des frühen 19. Jahrhunderts nachempfunden, in der für diese Gruppe das Prinzip der „verminderten Bedürftigkeit“ etabliert wurde. Galten die Armen noch im 17. Jahrhundert als unschuldige Opfer der Umstände, so wurden sie im viktorianischen England für ihr Elend verantwortlich gemacht und zur Disziplinierung in die Arbeitshäuser gesteckt. Anno 1988 sollen die Arbeitslosen nun erneut mit Einkommenseinbußen und Disziplinarmaßnahmen aus ihrer „selbstverschuldeten“ Armut getrieben werden. Konservative Politiker reisen in diesen Tagen durch Amerika, um die Anwendung der dort praktizierten Zwangsarbeit für alleinstehende Sozialhilfeempfänger auch für Großbritannien vorzubereiten. Zur Strafe fürs selbstgewählte Elend muß sich die neue Unterklasse nun auch noch die größte Gemeinheit des Sozialhilfegesetzes gefallen lassen: die Umstellung der Einmal–Zahlungen für größere Anschaffungen wie Kleidung und Möbel auf Kreditbasis. Was den britischen Staat im vergangenen Jahr rund 400 Mio. Pfund kostete, soll 1988/89 aus dem neueingerichteten „Sozialfond“ von 203 Mio. Pfund bestritten werden, von denen 130 Mio. Pfund nur als Kredite vergeben werden dürfen. Ein Sozialhilfeempfänger muß die Kosten für einen neuen Gasherd demnächst in Raten von fünf bis 15 Prozent sei nes Wocheneinkommens von 75 DM an den „Sozial“staat zurückzahlen; womit er in dieser Zeit unter die offizielle Armutsgrenze abrutscht. Der Regierung kommt es bei den Umverteilungsmanövern weniger aufs Sparen als auf die gezielte Senkung der Erwartungshaltung an den Staat an, auf die Zerstörung der „düsteren Apathie der Abhängigkeits–Kultur“, wie es Sozialminister John Moore im Regierungsspeak formulierte. Das im traditionellen Wohlfahrtsstaat noch selbsverständliche Recht der Bürger in Not auf Sozialleistungen soll durch die Vergrößerung des Ermessensspielraums für die staatlichen Stellen bei der Fürsorgevergabe weiter ausgehöhlt werden. Zu welchen Szenen in den überfüllten Sozialämtern dies führen wird, haben die Kürzungen bei den Einmal–Zahlungen im August 1986 erahnen lassen. Danach, so listet eine Zusammenstellung der Bewilligungspraktiken durch die „Child Poverty Action Group“ auf, wurden Kindern keine Schuhe mehr bewilligt, weil die drei Paar Socken auch reichten. Kein Wunder, daß parallel zu der Einführung des Sozialfonds in vielen Sozialämtern zum Schutz der überforderten Beamten neue Trennscheiben hochgezogen und die Aschenbecher angeschraubt werden. Politisch leisten kann sich die Regierung Thatcher solche Gesetze deshalb, weil es sich bei der rund ein Viertel der Bevölkerung ausmachenden Unterklasse in den wenigsten Fällen um Tory– Wähler handelt. Von einer grundlegenden Reform des überholungsbedürftigen Sozialstaates hat die Regierung Thatcher dagegen wohlweislich Abstand genommen. Die Einführung und Finanzierung eines integrierten Steuer– und Sozialleistungssystems oder gar eines garantierten Mindesteinkommens hätte nämlich die Abschaffung all jener staatlichen „Sozial“–Leistungen erfordert, mit denen Frau Thatchers Mittelstands–Klientel seinen gegenwärtigen Konsumtrip finanziert.
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