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Kompendium des Schreckens, Dokument der Solidarität

■ Das neueste der Dachauer Hefte ist dem Thema „Frauen, Verfolgung und Widerstand“ gewidmet / Über Lageralltag und Widerstandsaktionen

Von Ingrid Strobl

Das Thema Frauen, Verfolgung und Widerstand im Nationalsozialismus ist von der Fachliteratur allzu lange vernachlässigt worden. Die paar verdienstvollen Arbeiten, die bereits vorliegen, in Ehren, aber sie gehen hoffnungslos unter in den Bergen von Untersuchungen, die zwar offiziell der Problematik allgemein gewidmet sind, sich de facto aber auf die Erfahrungen von Männern konzentrieren. Umso erfreulicher der jetzt vorliegende Überblick der Dachauer Hefte, der außerdem noch einige wertvolle Erstveröffentlichungen bietet: Die Beiträge sind qualitativ sehr unterschiedlich, manche etwas zu schematisch, viele jedoch unverzichtbar. Da gibt es eine Chronologie der Frauenlager von Schloß Lichtenburg über Ravensbrück bis Birkenau, da erfährt die Leserin aber auch das, was über die Organisation des Terrors und die monströsen Zahlen hinausgeht: die tägliche Qual, die täglichen „Kleinigkeiten“, die die Frauen zermürbten, die tausend Arten von Folter, die nicht offiziell als Folter begriffen werden, die diffizilen Demütigungen, die darauf abzielten, aus Menschen Tiere zu machen. In Birkenau zum Beispiel stand im Januar 1943 den 12.000 Frauen zum Trinken und Waschen nur ein einziger Wasserhahn zur Verfügung. Eine der Häftlinge, Charlotte Delbo, erinnert sich, daß sie sich, wenn es nicht gerade regnete oder schneite, 67 Tage lang nicht waschen konnte. Lisa Neumanova, die aus Auschwitz–Birkenau zur Zwangsarbeit nach Hamburg deportiert wurde, beschreibt den Arbeitstag im Lager am Dessauer Ufer: „Täglich mußten wir um drei Uhr früh aufstehen, bekamen ein wenig Kaffee, kaum warm, um vier Uhr, nur in leichter Bekleidung (graue Sommerhäftlingskittel) ohne Strümpfe in Holzpantoffeln, warteten wir bei Wind und Wetter auf den Dampfer, der uns zu unseren Arbeitsplätzen brachte, vorwiegend lauter Benzin– und Ölraffinerien, die bei Bombenangriffen beschädigt (...) worden waren (...). Von sechs Uhr früh bis spät am Nachmittag arbeiteten wir, bis auf die Mittagspause, ununterbrochen. Doch damit war der Tag noch nicht zu Ende. In allen Lagern wurde die besondere Tortur des Appells praktiziert. Stundenlang mußten die Frauen bei jedem Wetter auf dem Lagerhof strammstehen, aus dem geringfügigsten Anlaß, manchmal auch ohne Anlaß. Wer das Stehen nach der stundenlangen Arbeit nicht durchhielt, wer vor Müdigkeit oder Erschöpfung schwankte oder gar umfiel, hatte sein Leben verwirkt. Die Appelle waren nicht nur Schikane, sie waren auch eine Form der Selektion. Reine Schikane war die Kleiderzuteilung. Nicht nur, daß diese sogenannte Kleidung weder schützte noch wärmte, es wurden auch mit Bedacht großen Frauen kleine Stücke und kleinen Frauen große Teile gegeben - tauschen war strikt verboten. Diese Lumpen wurden auch nie wieder ausgewechselt, sie mußten halten bis zum Tod - oder bis zur Befreiung. Die Frauen wuschen sie mit kaltem Wasser und Sand und zogen sie naß wieder an, im Sommer wie im Winter. Dieser Band berichtet auch vom Widerstand der Frauen unter Bedingungen, die selbst das Überleben unmöglich erscheinen ließen. Die einen weigerten sich, höhere Stückzahlen in der Produktion von Gasmasken zu liefern, obwohl ihnen so verlockende Prämien wie Zahnpasta oder frische rote Beete angeboten wurden. Die anderen schafften es, eine Gruppe von „Kaninchen“ zu verstecken, die in die Gaskammer transportiert werden sollten: „Kaninchen“ wurden die Opfer der medizinischen Experi mente in den KZs genannt; wenn sie - verkrüppelt, chronisch krank gemacht - die wissenschaftliche Folter der Herren Mengele & Co. überlebten, kamen sie fast automatisch auf die Todesliste. Die Geschichte der jungen Polinnen, die den Sprengstoff für den Aufstand des „Sonderkommandos“ in Auschwitz Tag für Tag aus dem Rüstungsbetrieb schmuggelten, in dem sie zur Zwangsarbeit eingesetzt waren, wird hier erstmals ausführlicher (in der deutschsprachigen Literatur) dokumentiert. Weitgehend unbekannt ist bislang das Schicksal der Jüdinnen, die von der Insel Rhodos verschlepp „Zigeuner“–Lagern eingeht; ferner der Aufsatz „Im Schatten der Helden“, der das Leben von Centa Beimler–Herker und Lina Haag erzählt. Beide wurden von 1933 an verfolgt - als Frauen ihrer Männer (Hans Beimler, dem es gelungen war, aus dem KZ zu flüchten, war schon zu Lebzeiten eine Legende des Spanischen Bürgerkriegs) und auf Grund ihrer ungebrochenen Widerstandstätigkeit. Doch daß auch Beimlers und Haags Frauen eine Odyssee durch die Gefängnisse und Lager des tausendjährigen Reiches hinter sich haben, das interessierte - bislang - kaum jemanden. Dieser Band ist ein Kompendium des Schreckens, aber auch ein Dokument der Solidarität des Widerstandes, des hartnäckigen und pausenlosen Kampfes um die Menschlichkeit und Menschenwürde. Gut, daß er erschienen ist, besser noch, wenn er auch gelesen wird. Dachauer Hefte, Band 3, Frauenverfolgung und Widerstand, November 1987, 22 Mark.

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