piwik no script img

Streikwelle in polnischen Städten

■ 20.000 Arbeiter streiken im Stahlwerk Nova Huta / Auch Busfahrer im Ausstand / Arbeiter fordern höheren Ausgleich für die Preissteigerungen nach der Wirtschaftsreform / Wieder stärkere Strukturen von Solidarnosc

Aus Warschau Klaus Bachmann

Nichts geht mehr in den Lenin– Hüttewerken in Nova Huta bei Krakau. Über 20.000 Arbeiter standen dort gestern im Streik. Streiks auch bei den Busfahrern in mindestens vier Städten - Polen erlebt derzeit die größte Streikwelle seit Verhängung des Kriegsrechts im Jahre 1981. Die 70 Prozent der Belegschaft in Nova Huta legten gestern die gesamte Produktion lahm. Schlichtungsversuche zwischen einem Streikkomitee und dem Betriebsleiter sind in der Nacht zum Mittwoch fehlgeschlagen. Die Streikenden fordern Lohnerhöhungen, einen Ausgleichszuschlag für die letzten Preiserhöhungen in der Höhe von 6000 Zloty und die Wiedereinstellung von entlassenen Aktivisten der nach wie vor verbotenen Gewerkschaft Solidarnosc. Am Montag streikten die Angestellten der Nahverkehrsbetriebe in der Region Bydgoszcz und Wroclaw (Breslau). Die Regierung hat hier Zuge ständnisse gemacht und ist in Verhandlungen mit den Streikenden getreten, die daraufhin den Streik aussetzten. Es geht offensichtlich nicht mehr nur um wirtschaftliche Forderungen. In Bydgoszcz setzte sich zwar ein der kommunistischen Partei angehörender Vertreter der offiziellen Gewerkschaften (OPZZ) an die Spitze des Streiks, doch erklärte auch Lech Walesa seine Unterstützung für die Streikenden. Und in Stalowa Wola haben die Arbeiter Streikbereitschaft signalisiert, nachdem der ehemalige Vorsitzende von Solidarnosc in der Region Bydgosz, Rulewski, vorläufig festgenommen worden war. Mit den Streiks ist klargeworden, daß weder der von der Regierung ausbezahlte Teuerungsausgleich noch die Aktion „Frühling 88“ die verstärkte Präsenz von Miliz und Fortsetzung Seite 6 Wirtschaftskontrolleuren in den Betrieben die Proteste verhindern konnten. Daß die Streiks, die vor allem einen höheren Ausgleich für die im Februar und April erfolgten Preiserhöhungen zum Ziel haben, erst jetzt ausbrechen, ist damit zu erklären, daß sich die Erhöhungen erst jetzt auf das Budget der Familien auswirken. In den letzten Wochen sind die Preise von Obst, Gemüse und Haushaltsgegenständen zum Teil fast auf das Doppelte ge stiegen. Das hat in den Betrieben zu großer Verbitterung geführt. Schon im März war es bei Beschäftigten im staatlichen Gesundheitswesen, die extrem unterbezahlt sind, zu Streiks und Protestaktionen gekommen. Auch in Nova Huta stehen zur Zeit Lohnerhöhungen im Mittelpunkt; die Streikenden fordern 12.000 statt der zugestandenen 6.000 Zloty Erhöhung. Hinzu kommt noch die Forderung, zwei entlassene Aktivisten der Solidarnosc wieder einzustellen und die Gewerkschaft zu legalisieren. Nach Angaben von Jacek Kuron, der den in den Untergrund abgetauchten Krakauer Streikführern als Koordinator behilflich ist, wird der Streik in Nova Huta als Rotationsstreik durchgeführt; es arbeiten nur genügend Beschäftigte um die notwendigsten Betriebsfunktionen der Hütte aufrechtzuerhalten und die Hochöfen nicht abstellen zu müssen. Für die Regierung ist damit eine kritische Situation entstanden. In der letzten Zeit sind in vielen - oder außerhalb - Betrieben im Rahmen der Selbstverwaltungs rechte Komitees zur Registrierung der verbotenen Gewerkschaft Solidarnosc entstanden, die sich jederzeit in Streikkomitees verwandeln können. Über die Untergrundstrukturen der Solidarnosc haben diese Komitees auch untereinander Verbindung, so daß eine Ausbreitung der Streikbewegung in kürzester Zeit eine organisatorische Basis aus erfahrenen Gewerkschaften hätte. Bleibt die Regierung hart, kann sich die Entwicklung blitzartig auf das ganze Land ausbreiten; gibt sie jedoch nach, gerät die Finanzierung der Wirtschaftsreform in Gefahr. Dann nämlich werden die Preiserhöhungen vom Februar einfach wieder durch Lohnerhöhungen ausgeglichen und das einzige, was sich verändert, sind Inflation und der weitere Wertverfall des Zloty. Regierungssprecher Urban zufolge scheint die Regierung eher der zweiten Variante zuzuneigen. Urban kommentierte den Streik des Nahverkehrs in Bydgoszcz auf seiner wöchentlichen Pressekonferenz gestern so: wenn man sich auf Lohnerhöhungen einigen werde, müßten eben die Preise im öffentlichen Nahverkehr in Bydgoszcz angehoben werden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen