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Fremd im eigenen Land

Aus London Rolf Paasch

Sie heißen beide Dave. Beide sind gelernte Schweißer und kommen aus Großbritanniens working class. Doch Dave Pugh lebt im Nordosten des Landes, ist seit vier Jahren arbeitslos und bezieht mit Frau und Kind zusammen knapp 100 DM Sozialhilfe die Woche. David Hogan dagegen fährt morgens in seinem neuen Ford Sierra zur Arbeit und genießt mit seiner vierköpfigen Familie auch sonst den für seine Klasse ungewohnten Wohlstand in Großbritanniens prosperierendem Süden. „Wir müssen nicht mehr rechnen“, sagt seine Frau. Wie bei George Orwell, der einst in London und Paris in die Rolle eines Penners schlüpfte, so organisierte das britische Fernsehen unlängst den sozialen Tausch zwischen den Pughs aus Middlesborough und den Hogans aus Winchester. „Swap your lives.“ Was folgte, waren Szenen aus einem gespaltenen Land. Kopfschüttelnd fahren die Hogans mit dem Intercity - wie an der Filmkulisse einer zerstörten Industrielandschaft vorbeigleitend - in den Bahnhof der einstigen Stahlmetropole von Middlesborough ein. „Das sieht ja aus wie in einem Entwicklungsland“, entfährt es Frau Hogan. Dave Hogan, dem schon nach vier Tagen Arbeitslosendasein die Decke auf den Kopf fällt, revidiert recht bald sein mitgebrachtes Bild von den parasitären Nichtstuern, die gar nicht arbeiten wollen. „Wie sollen wir nur mit dem Geld auskommen“, fragt sich die ortsversetzte Familie am Küchentisch. Abends beim einzigen (!) Bier in der Kneipe erfährt Dave das Ausmaß der Spaltung, als er sich die Haßtiraden über Maggie, London und den Süden von Männern seiner eigenen Klasse anhören muß. Doch noch können sie ohne persönliche Animositäten über ihre verschiedenen Erfahrungen reden, die ganze Wut der Männer des Nordens richtet sich gegen das politische Regime, das diese Spaltung noch fördert. Die Pughs bewegen sich unterdessen in Winchester wie im Schlaraffenland. David kommt aus der Fabrik mit der überraschenden Erfahrung zurück, daß es auch ohne Gewerkschaften geht. Nur daß sein Arbeitgeber, den Stahl aus dem Hauptwerk in seiner Heimatstadt zur Fertigung hier nach Winchester bringt, will ihm nicht in den Kopf. „Qualifizierte Arbeitskräfte haben wir doch auch im Norden genug.“ Als er, der in den letzten Jahren hunderte erfolgloser Bewerbungsschreiben losgeschickt hat, dann im lokalen Anzeigenblättchen 40 Stellenanzeigen sieht, versteht er die Welt nicht mehr. Erst das Studium der Schaufenster des Wohnungsmaklers im Stadtzentrum der boomenden Kleinstadt liefert ihm die Erklärung: „800.000 DM für eine 3–Zimmer–Wohung! Dafür können wir uns in Middlesborough die halbe Stadt kaufen.“ Die konservative Wohnungsbaupolitik und die Explosion der Hauspreise im Süden haben jene Mobilitätsschranken errichtet, die den Traum der Pughs, vielleicht in den Süden zu ziehen, gleich wieder zerschlagen. Am Ende der Woche sehnen sich die Hogans nach Hause, wollen die Pughs ihre vorübergehende Heimat gar nicht mehr verlassen. „Da oben erwartet mich doch gar nichts“, sagt Dave resigniert. Seine Familie jedoch werde die einwöchige Erfahrung wohl ebenso schnell vergessen wie die Fernsehzuschauer den 40minütigen Fernsehbeitrag über „den Tausch“. Was sicher hängen bleibt, ist die nur am Rande erwähnte Erfahrung der Kinder. Denn während sich die Erwachsenen noch über die sozio–geographische Grenze hinweg verständigen konnten, gelang es den Kindern in der Schule nicht mehr, Kontakte zu knüpfen oder gar Freunde zu gewinnen. Sie waren schon fremd im eigenen Land.

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