: Chronologie einer atomaren Lügengeschichte
■ Ersatz für die wegzuverhandelnden Mittelstreckenraketen ist längst geplant / Erster Schritt: die britische Umrüstung
Aus London Rolf Paasch
Im Herbst 1983 trafen die NATO–Verteidigungsminister im kanadischen Montebello ihre Grundsatzentscheidung über die Modernisierung ihrer atomaren Arsenale. Geplant wurde damals schon der Ersatz für die später zur Abrüstung freigegebenen Mittelstreckenwaffen. Im Herbst 1985 bekräftigen die gleichen Minister dann die Empfehlung des NATO– Oberkommandierenden zur Entwicklung luftgestützter Abstandswaffen als Ersatz für die altmodischen britischen Freifallbomben vom Typ WE–177. Den jeweiligen Parlamenten werden derweil Lügengeschichten aufgetischt, alle des gleichen Inhalts: bisher sei noch gar nichts entschieden. Seit der gestrigen Pressekonferenz des britischen Verteidigungsministers George Younger gilt nun zumindest für die Briten eine andere Version: Zur Ergänzung seines strategischen seegestützten Atomwaffenarsenals braucht Großbritannien noch „substrategische“ luftgestützte Atomraketen für seine Tornadobomber, falls die Sowjets bei ihrem lange erwarteten Angriff allein über Großbritannien herfallen sollten. De facto hat die Regierung Thatcher damit noch vor der endgültigen Wegverhandlung der Mittelstreckenraketen den offiziellen Startschuß für die Ersetzung der Pershings und Cruise durch neue luftgestützte Atomraketen gegeben. Worüber jetzt auch die Presse berichten kann. Fünf Jahre rührten die Medien keinen Finger - jetzt durfte ein Fernsehteam der britischen Sendung Panorama die WE–177– Bombe ansehen; deren dickbäuchige Altertümlichkeit soll zur Verkündigung der Modernisierungsentscheidung nun auch visuell unters Volk gebracht werden. Ja, selbst die Franzosen gaben den Blick auf Originalexemplare ihrer ASMP–Missiles frei; schließlich wollen sie ihre bereits flugbereiten, luftgestützten Atomraketen, etwas zurechtfrisiert, den waffenhungrigen Briten zum Kauf anbieten. Dank der rührigen Öffentlichkeitsarbeit der Militärs wissen wir nun all das, was uns bisher nichts anging. Im Dunkeln tappen nur noch jene britischen Abgeordneten, die während der Panorama–Sendung im Parlament die Hand heben mußten.
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