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Krieg spielen oder nicht

■ Rückschau auf Perspectives , das Festival du teatre francais in Saarbrücken

Reinhold Urmetzer Krieg spielen oder nicht

Rückschau auf „Perspectives“, das „Festival du teatre

fran?ais“ in Saarbrücken

Weniger als 3.000 Meter trennen die Saarbrücker Innenstadt von der französischen Grenze. Gut gelaunt flanieren die pieds noir, Algerier, Marokkaner und frankophone Schwarze, durch die Fußgängerzone, meist Studenten und unbeeindruckt von den wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes. Viele Gemeinden im saarländischen Kohlenbecken haben ihren stillgelegten Bergwerken bereits an zentraler Stelle Gedenksteine errichtet in Form von Stahlskulpturen aus den Rädern der Fördertürme, die nach und nach abgebaut werden. Ein ganzes Hüttenwerk ist in Neunkirchen innerhalb kurzer Zeit abgetragen worden - eine Wiese, ein Park, ein einsamer Hochofen sind als Denkmal für die untergehende Zeit übriggeblieben. In der Glasgebläsehalle von ARBED-Saarstahl spielt man in einer der „Perspectives„-Veranstaltungen zumindest noch Theater: Schick und fein, wie's die Franzosen mögen, findet dort eine Papier-Performance statt mit Saxophon-Jazz, rußigem Staub und bunten Bildern.

Die Verwurzelung der Veranstaltungen in der Region und die besonderen Aufführungsstätten (verlassene Industriehallen, eine bäuerliche Scheune auf dem Land, ein postmoderner Kulturpalast, bürgerliche Theaterhäuser, das Hofhaus Beaumarais in Saarlouis) machen den ungewöhnlichen Reiz dieses Festivals aus, die größte ausländische Präsentation französischen Theaters überhaupt. Unter der Schirmherrschaft des französischen Botschafters hat es 24 Veranstaltungen mit 38 Aufführungen an elf Spielorten gegeben. Auch dieses Jahr ist der multimediale Aspekt besonders betont worden, der die „Perspektiven“ so deutlich abhebt von den oft erstarrten oder um Vergangenheits-Aneignung bemühten bundesrepublikanischen Staatsbetrieben. Theater ist hier Tanz, Tanz wird zu Performance, Bild oder Skulptur („Situation“), beides wird wie im Video-Clip zu Musik, zu Film, Zirkus oder Klamauk.

Vielleicht ist der zirzensische Charakter in diesem Jahr etwas überbetont worden. Doch die „Scheinlügenstunde“ zu feiern jenseits einer sauertöpfischen Misanthropie war immer schon eher Sache der Franzosen, das Auflösen und Brechen einer Erstarrung mittels Witz und Esprit (oder auch die weiche Welle: Poesie und Phantasie) wichtiger als bürokratische Zementierung und rationale Durchdringung. Dennoch haben die leisen Töne von Morbidezza und Lebenslangeweile, die auch jenseits der Grenze zu hören sind, gerade inmitten der saarländischen Industrieruinen ihren passenden Ausdruck gefunden. „Ein lustiges Stück für eine traurige Welt, ein Spektakel für die Lebewesen, die wir sind, und die wir an diesem Jahrhundert kranken“, so beschreibt die Cie. Jerome Deschamps ihreC'est dimanche -Paraphrase.

Neben dem zirzensischen Element war der französische Humor, der geschickt zwischen Dadaismus, Surrealismus und grotesker Absurdität hin und her pendeln kann, besonders stark vertreten. In dem Musiktheater Jules Vernes desTrio Le Cercle, tituliert als „Kammerphantasie in Form eines Spektakels“ (Inszenierung Michael Lonsdale), werden Episoden aus dem Werk Jules Vernes von drei seiner Hauptfiguren (Professor Lidenbrook, Kapitän Nemo und Doktor Fergusson) in einem visuell-akustischen Dada-Spektakel zusammengeführt. Die Musik ist wie für eine zeitgenössische Oper komponiert, es gibt Varese und Musique Concrete, die Protagonisten zwitschern atonale Arien; auch historische Zitate sind reichlich in das Tableau eingestreut. Cage-Effekte wie das zweimalige Wasser-über-den-Kopf-Schütten lösen die Handlung vollends auf, surreale Momente wie der fliegende Fisch oder ein kleiner Ballon im Hintergrund verweisen auf Jules Vernes Bücher; einer der Darsteller taucht schließlich ganz unter in der Badewanne, nachdem er zuvor immerhin noch, mit beiden Beinen im Wasser stehend, hat Vibraphon spielen dürfen.

Vor dem Stadttheater hat der Archaos-Zirkus sein „Freiluftzelt“ aufgeschlagen. Für Belüftung ist gesorgt; der Besucher wird mit reichlich viel Abgas und Trockeneisnebel eingelullt, Schweißgeräte und Motorräder heulen durch die Manege, eine Kettensäge fliegt samt Akteur lautstark durch die Luft, es zischt, knallt, rattert und brummt. Ein furioser Beginn für dieses als „Punk-Zirkus“ deklarierte futuristische Spektakel - in der nachfolgenden Veranstaltung gibt's tatsächlich viel Motortechnik und Wellblechaktionen; die sechsköpfige Jazzband kann's sogar a la Motörhead: dem Phallus-Symbol Motorrad zuliebe. Der Zirkus verfügt nur über ein Pferd, keine anderen Tiere, dafür aber sieben Motorräder. Kleine Kunststücke oder akrobatische Seil- und Trapezaktionen (darunter ein Fahrrad fahrendes Federvieh) lockern das dröhnende Geschehen auf. Der Geiger der Band hängt schließlich kopfunter in der Zirkuskuppel und spielt sein klassisches Solo, über ihm ganz oben der geliebte Feuerstuhl. Einige Hühner picken gelangweilt in der Gegend herum. Den Hahn hat man derweil hypnotisiert: alle Zweie von sich streckend, liegt er bereitwillig auf dem Tranchierteller.

Szenen- und Ortswechsel: wieder zum Dadaismus. Les Peches de Bagnolet von der Gruppe Vincent Colin spielt in einer bizarren Skulpturenlandschaft aus kleinen Zuckerstücken. Nach bewährter Manier wird mittels einer Collage aus heterogenen Elementen eine informelle Überkomplexität erzeugt, die auf die Vermittlung von Botschaft und Sinn ganz verzichtet (erfreulicherweise): Ein Kreuzritter in zünftigem Gewand und ein eher neuzeitlicher Museums-Wärter erzählen sich allerlei Anekdoten über ihren Pariser Vorort Bagnolet. Im Sinn einer „Geschichte von unten“ spielen sie Zucker -Schach mit oder als Lenin und Danton; selbst 1789 ist nur noch eine Anekdote wert. Elektrische Haushaltsgegenstände an den Wänden um die Zuschauer herum werden wie von Geisterhand angeschaltet, dazu Tonbandeinblendungen mit Hörspielcharakter, Schattenspiele und Diaprojektionen auf die edel-weiße Zuckerlandschaft im edel-postmodernen Bürgerhaus von Böhm. Die Texte werden von den beiden Schauspielern mit einer eher gelangweilten Nonchalance vorgetragen - die Ästhetisierung des Nichts gelingt wieder perfekt und mit Stil. Apathisch verliert sich der hübsche Ritter ohne Schwert in sein Kinderspiel mit kleinen Spielzeugautos auf der Zuckerpiste. Zwei große Taschenlampen beleuchten diese „Autobahn“ und werfen ein bedrohliches Licht auf Gegenwart wie Zukunft.

In einem der wenigen Sprechtheaterstücke, die sich am Ende ebenfalls in Performance oder bildnerische Skulptur verwandeln (die anderen Rubriken im edel aufgemachten Programmheft sind Zirkus, Tanztheater, Musiktheater, Straßentheater und Performance), wird zuerst ein Miniatur -Schlachtfeld aufgebaut: mit Flutlichtanlage, einsamem Kämpfer und Kanone. Dann werden in einer höchst poetischen Sprache und in bewußtem Gegensatz zum Geschehen Wolken und Sand, Wüste, Himmel sowie Nacht und Untergang beschworen. Die beiden Protagonisten der Cie. Briquet-Chattot, biertrinkend in der Küche und ohne Fernsehgerät, steigern sich in eine Phantasiewelt hinein, bis ihre Halluzinationen schließlich Wirklichkeit werden (Text Michael Deutsch). Eine „Armee“ wird herbeigeschleppt: sechs zerstümmelte lebensgroße Puppen mit durchschossenen Schädeln und zerschnittenenen Gesichtern. Nachrichten in englischer Sprache begleiten die „Schlacht“ - man sucht das desastre und die catastrophe inconnue und steigert sich schließlich in allgemeine Raserei: Der „Sieg“ wird mit Geheul und infernalischem Gebrüll und einer Kinder-Trompete gefeiert, die nicht mehr so recht funktioniert. Gegen Ende wird sogar das Publikum in die Schlacht miteinbezogen und mit zahlreichen Cola-Büchsen attackiert - wir spielen mit. Zurück bleibt auf der Bühne ein kienholzähnliches Environment und im Zuschauer die Erkenntnis, daß Militärs in voller Aktion und einmal losgelassen Wahnsinnige sind und als solche angesehen werden müssen.

Marc Adam, 33 Jahre junger Festivaldirektor seit 1987, nennt als Hauptthema des diesjährigen Programms: „Wie sich Musik und Theater in Frankreich begegnen und gegenseitig beeinflussen.“ Außerdem hat er eine dreitägige Nebenveranstaltung ins Leben gerufen, in welcher sich in zweispragigen szenischen Lesungen Theaterleute, Dramaturgen, Übersetzer und Verleger kennenlernen können. Denn anders als in Deutschland sind auf dem Festival ausschließlich zeitgenössische Autoren gespielt worden. Die Veranstaltungen waren nicht nur für Insider, sondern für alle gedacht. Daraus ergab sich jedoch zwangsläufig und zusätzlich zur verbreiteten Liebe für den schönen Schein, für eine fast graphische Gestaltung und Dekoration eine gewisse glatte Oberflächlichkeit, an der nur selten gekratzt wurde.

Symptomatisch dafür das Tanztheater La Place Blanche im Globe, der auch noch als Büro und Treffpunkt des Festivals fungierte. In einem ausgebrannten und halbzerfallenen Ballsaal treffen sich, begleitet von immer wiederkehrendem dumpfen Donnergrollen, einige Paare, jung und schön und alle in edlem Schwarz. Sie drehen Tango-, Walzer- und Pasodoble-Runden, zeichnen ihre Posen von Liebe und Sex aufs Parkett (Programmheft: „Mikrokosmos der Einsamkeit des Begehrens“). Alles erinnert wieder an einen Video-Clip, die Dissoziation der Handlung, das Stilisierte, die reine Form ohne eindeutigen Sinn, nur nicht so perfekt und abwechslungsreich ausgeführt wie dort. Selbstbewußt und narzißtisch präsentieren sich die Paare. Sie wollen eine gewisse Tristesse und Lebenslangeweile nicht verbergen. Gegen Ende rafft sich ein Tänzer auf. Er steht vor der abbröckelnden Kulissen-Ruine, nimmt das Mikrophon in die Hand, die Band spielt jetzt live, und er singt: „Es gibt Nächte, die...“

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