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In Marseille wird um Stimmen gepokert

■ Frankreichs zweitgrößte Metropole ist im Zuge der Parlamentswahlen zur politischen Hauptstadt geworden Der Rechtsradikale Le Pen hofft, im nächsten Jahr Bürgermeister von Marseille zu werden

In Marseille wird um Stimmen gepokert

Frankreichs zweitgrößte Metropole ist im Zuge der

Parlamentswahlen zur politischen Hauptstadt geworden

Der Rechtsradikale Le Pen hofft, im nächsten Jahr

Bürgermeister von Marseille zu werden

Aus Marseille Georg Blume

Innerhalb einer Woche ist Marseille - alle Medien sind sich einig - zur „politischen Hauptstadt Frankreichs“ geworden. Der rechtsradikale Le Pen erkannte dies als erster. „Er, Kandidat in Marseille? Nein, nein, das will ich nicht glauben.“ Doch Jean-Claude Gaudin, Chef der rechtsliberalen UDF in Marseille, entsetzte sich umsonst. Le Pen sah seine Chance. Marseille hatte ihm beim ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen mehr Stimmen gegeben als allen anderen: 28.34 Prozent. Der Wahlsieger nannte das Ergebnis eine „Liebesbotschaft“ aus Frankreichs zweitgrößter Metropole. Le Pen will heute für Marseille ins Parlament. Und er will noch mehr.

„Solange ich lebe, wird Le Pen nicht Bürgermeister von Marseille.“ Frankreichs Top-Manager Bernard Tapie hat neben dem Fußball noch andere Dinge im Kopf. Seine Kicker, die „Olympique Marseille“, sind die Populärsten im Lande. Nur in Marseille ist das Stadion immer voll - allerdings auch, wenn Le Pen in der Fußballarena Wahlkampf macht. Bernard Tapie, dachte Francois Mitterrand, wäre der Kandidat der Le Pen in dessen Hochburg schlagen könnte. Bei den Parlamentswahlen sicherlich, doch in Marseille sind die Wahlen im Juni nur ein Test für den Run auf das Rathaus im nächsten Jahr.

Es gibt aber auch andere Kandidaten für das Bürgermeiseramt. Der Sozialist Michel Pezet zum Beispiel. Die Sozialisten bekämpfen sich hier lieber erst untereinander, als gegen Le Pen zusammenzustehen: Pezet, Parteichef vor Ort, widersetzte sich schließlich mit Erfolg dem Willen Mitterrands. Nicht wie vorgesehen im Wahlkreis von Le Pen darf Tapie nun ins Feld ziehen, sondern im Wahlkreis nebenan, der für die Sozialisten im voraus als verloren gilt. Tapie, der Arbeitersohn, der wie kein anderer den französischen Traum von der Modernität verkörpert, muß kämpfen. Bisher hatte er noch nie verloren. „Siegen“ hieß sein erstes Buch, „Ehrgeiz“ nannte er seine TV-Show.

Nirgendwo in Frankreich sind die politischen Verhältnisse undurchsichtiger. Mafia-Politik hat in Marseille Tradition. Gaston Deferre, der charismatische Nachkriegssozialist, thronte 33 Jahre, von 1953 bis zu seinem Tod 1986, über Marseille. Seine Nachfolge ist offen, seitdem der ebenso angesehene wie politisch hilflose Chirurg Robert Vigouroux den Bürgermeistersessel der Sozialisten besetzt. Deferres politisches Erbe aber lebt fort. Die Sozialisten in Marseille waren noch nie überzeugungsstark, dafür umso intriganter. Sie schmierten Presse, Unternehmen und 12000 (!) städtische Angestellte. Aber erst mit dem wirtschaftlichen Abstieg der Stadt, seitdem Marseille 15 Prozent Arbeitslose zählt, seit der große Hafen nicht mehr die Reichtümer in die Stadt schwemmt, seitdem sich die Beton -Vorstädte der sechziger Jahre in Ausländer-Ghettos verwandelten, konnte sich unter den Fittichen der sozialistischen Nomenklatura der Rassismus einnisten. Le Pen ist in Marseille eine ernsthafte Gefahr.

Michel Pezet hat vorerst andere Sorgen. Seit zwei Jahren boykottiert der mächtigste Mann in der sozialistischen Rathausfraktion alle Initiativen des amtierenden sozialistischen Bürgermeisters. „Schon seit langem wird die Diskussion nicht mehr zwischen der Rechten und der Linken geführt, sondern zwischen Pezet und Vigouroux“, erklärt der kommunistische Ratsherr Jean Dufour.

Auch Le Pen operiert auf schwierigem Gebiet. Seinen bevorzugten Wahlkreis bekam er nicht, weil die 'Front National‘ vor Ort an eine Absprache mit der UDF gebunden war. Jetzt tritt er in einem Stadtteil an, wo Francois Mitterrand bei der Präsidentschaftswahl 54 Prozent der Stimmen gewann.

Ein paradoxes Bild: Le Pen und Tapie ziehen alle Aufmerksamkeit auf Marseille, erscheinen vor den politisch blassen Lokalgrößen Pezet und Gaudin als die eigentlichen Herausforderer für das Bürgermeisteramt, und stehen doch bereits heute in aussichtsloser Position.

Neben Pezet auf der Linken hat Gaudin auf der Rechten alle politischen Karten - fein sortiert - in der Hand. „Wir schließen nichts aus, was einen Sieg der Sozialisten verhindert.“ Gaudins Botschaft ist klar genug. Überall dort, wo in Marseille die Kandidaten Le Pens nach dem ersten Wahlgang der Parlamentswahlen an der Spitze der Rechten liegen werden, wird Gaudin seine Kandidaten zurücktreten lassen. Das Einverständnis zwischen Rechtsradikalen und Bürgerlichen ist in Marseille ungetrübt. „Gaudin hat immer bekräftigt, daß er weiß, auf welcher Seite der Feind steht.“ Robert Perdomo, die Nummer eins der 'Front National‘ in Marseille, verbindet mit Gaudin eine alte und tiefe Freundschaft. Der Regionalrat der Provence unterliegt seit zwei Jahren ihrer gemeinsamen Führung. Sie haben im nächsten Jahr die größten Chancen - solange die Sozialisten sich aneinander zerreiben - das Rathaus zu erobern. Es sei denn, Le Pen oder Tapie können sich trotz ihrer schlechten Ausgangspositionen durchsetzen. Ihr Abschneiden wird in jedem Fall nationale Signalwirkung haben.

Tapie ist der Kandidat der von Mitterrand vielversprochenen Öffnung zur Mitte. Jener Mitte, in der sich nach Valery Giscard dEstaings inzwischen von den Sozialisten gepredigter Formel, „zwei von drei“ Franzosen wiederfinden würden. Ein unerwarteter Sieg Tapies könnte die politische Leerformel von der „Mitte“ zumindest showgerecht auffüllen. Mit ihm will Mitterrand einen neuen politischen Typus vorführen: parteilos, dynamisch, zeitgeisttreu, deformierbar zu jedem politischen Zweck, solange er Sieg und Erfolg verspricht.

Le Pen auf der Gegenseite will in Marseille zumindest symbolisch sein Rekordergebnis vom ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen übertreffen. Denn überall sonst im Land werden Mehrheitswahlrecht und Lokalkolorit der Wahlen zwangsläufig zu Stimmeneinbußen für die Rechtsradikalen führen. Ist dies in Marseille nicht der Fall, wo die 'Front National‘ ihren Wahlkampf auf Höhe der anderen Parteien betreibt, so wird Le Pen mit Recht behaupten können, daß sich die eigentlichen politischen Kräfteverhältnisse im Land seit der Präsidentschaftswahl nicht verändert haben - trotz nationaler Stimmenverluste der 'Front National‘.

In Marseille entwickelt sich eine politische Dramatik, die für das Land neu ist, den Franzosen aber in Zukunft nicht erspart bleiben wird. Ob als Gewinner oder Verlierer im zweiten Wahlgang der Parlamentswahlen - hier kann Le Pen für die Rechte punktuell den Anspruch auf seine Mehrheitsfähigkeit erheben. Das hat gereicht, um Marseille zur politischen Hauptstadt Frankreichs zu machen.

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