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Losleben mit dem anders Leben

■ Heute vor zehn Jahren wurde das erste Umweltfestival eröffnet und dokumentiert den Aufstieg der Alternativbewegung / Njalström, einer der Organisatoren, meditiert über die damalige Aufbruchstimmung

Losleben mit dem anders Leben

Heute vor zehn Jahren wurde das erste Umweltfestival eröffnet und dokumentiert den Aufstieg

der Alternativbewegung / Njalström, einer der Organisatoren, meditiert über die damalige Aufbruchstimmung

...'68, ...'78, ...'88 - Studentenrevolte, Umweltfestival, New Age-Kongreß... Das Wertekarussel dreht sich. Dennoch bergen solche Kreiselbewegungen eine Anreicherung gesellschaftlichen Lebens, ja mehr noch: wandeln es, sind seine ureigene Innovationsquelle, aus der Monotonie seiner Mechanismen erlöst zu werden? Sind nicht gerade solche Strömungen die Bruchstelle in der Linearität der Kreise, die menschliches Leben auf die Spirale seiner Evolution hieven? Ein einzelner kann nichts ausrichten, was nicht in der Gesellschaft vorbereitet liegt. Doch besonders sensible einzelne sind in der Lage, den sich ankündigenden Wechsel von Paradigmen frühzeitig wahrzunehmen. Sie besitzen dann die Möglichkeit, auf die gesellschaftlichen Bewegungskräfte gestaltend einzuwirken, indem sie eine bestimmte Art von Verantwortung freiwillig übernehmen, die über das Vakuum des Augenblicks hinausreicht.

Dieses Symbol der Bewegug, die Spirale, hatten wir für die Anlage unseres Dorfes benutzt. Der Vorschlag kam von den beiden Aussteiger-Architekten Burkard und Jürgen, die dies als Konzept für ein Zukunftsmodell entworfen hatten. Die Idee war nicht neu. Schon Auroville in Südindien war als ein solches planetarisches Dorf geplant und ausgeführt worden. Im kleinen wurde dies Symbol noch einmal in einer der zahlreichen Hütten und Werkstätten wiederholt, in der Gesundheitsschnecke. Wir befanden uns mitten im Aufbruch in diesen bewegten Zeiten und die Zeit war mit uns. Wir produzierten positiv, suchten und schlugen Wege vor, wie sich der einzelne aus den Verstrickungen, in die sich wohl jeder verkeilt hatte, befreien konnte. Einige der vorgelebten Lösungen (ohne Anspruch eines großen Entwurfs, sondern nur unter der Fragestellung der Machbarkeit) war wohl unsere Gemeinschaft selbst, die unsere Individualität förderte, in der wir Wünsche, wie unser Leben zu verlangsamen und zu vereinfachen, teilweise realisieren konnten. Wir bemühten uns, von alten Feindbildern abzulassen, die uns lediglich erschöpften. Wir wollten auch keine sterile Ausstellung organisieren, sondern losleben mit dem „anders“ leben. Dabei wollten wir vor allen lernen, ohne zu verdrängen, was wir als Individuen und als Gattung in unserer persönlichen und in „der“ Geschichte alles angerichtet hatten. Wir fühlten vage, daß „der Mensch“ in uns noch gar nicht so recht geworden war, nur als Potenz in uns steckte, die erst danach drängte, geboren zu werden. Wir hatten begriffen, oder einige von uns, daß die großen Katastrophen Spiegelbilder unsere eigenen Persönlichkeit waren, und wir uns als Teil des Kollektivs nicht durch ein bloßes „anders Denken“ aus der allgemeinen Verantwortung fortstehlen konnten. Wir wollten und mußten raus! Unsere Idyllen hatten uns geschwängert, aber austragen und aufziehen mußten wir es außerhalb von ihnen, wollten wir nicht als Isolierte in einer Gesellschaft von Schiffbrüchigen herumtreiben und mit ihr untergehen. Wir sammelten uns in einer Fabriketage in Schöneberg. Im Laufe der einjährigen Vorbereitungszeit krochen immer mehr Individuen aus ihren Verstecken, machten das geplante Fest zu ihrer Sache, aus der dann seine einzigartige Dynamik entstand. Als es dann vor zehn Jahren am 4.Juni losging, wurde es für viele zu einem Fest fürs Leben, ein knallbunter Erfolg, der vom Muskelspiel der eigenen und sich gegenseitig stützenden Kräfte in manchmal sogar gleißender Sonne glänzte. Von dem kleinen, zentralen Platz des Oktoberfestgeländes hinter dem Funkturm ging für sechs Wochen ein Sog auf die marode Stadt aus, als handelte es sich um ein super-„schwarzes Loch“ im Universum, das alles, was ihm zu nahe kommt, in seinen Bann zieht. Wären wir nicht alle zwei/drei Tage kräftig eingeregnet, wäre unsere Organisation vor dem Andrang der Besucherströme (u.a. 200 Schulklassen, 80.000 - 100.000 Besucher) wohl gänzlich zusammengebrochen. Am Eröffnungstag stürmten etwa 8.000 Radfahrer das Gelände, Tausende kosteten oft zum ersten Mal Vollkornbrot aus biologischen Anbau.

Plötzlich ging am Eröffnungstag ein Schrei durch die Menge, pflanzte sich wie ein Echo fort: Zwei Radfahrer waren - am Straßenrand stehend - vor dem Ökodorfgelände von einem angetrunkenen Autofahrer angefahren und lebensgefährlich verletzt worden. Rüdiger Ammon starb noch am gleichen Tage im Krankenhaus. Seine Freundin, die ein Kind erwartete, überlebte den Unfall. Einige errichteten spontan eine Schrottplastik, andere blockierten mit ihren Rädern den Verkehr auf dem Kurfürstendamm.

Ich entsinne mich sehr genau an unsere Hilflosigkeit. Wir wußten nicht, wie mit dem Tod umgehen. Wir wollten uns auch nicht entmutigen lassen, aber nahtlos konnten wir auch nicht zu den Tagesthemen übergehen. In einer Pressekonferenz einen Monat vor der Eröffnung hatten wir noch diese gleichgültige Gesellschaft angeklagt, die zum Schutze ihres Konsums und Komforts keine Schwierigkeiten damit zu haben scheint, daß auf ihren Straßen jährlich ca. 6.000 Menschen sterben. An dieses Zivilisationsopfer hat man sich gut gewöhnt, schaut weg, so wie man durch ein alkoholisierten Stadtstreicher hindurchsieht, als existiere er nicht. Aber nun waren wir dran! (den satz mußt du mir erklären! sezza) Ein Stück Scham blieb übrig.

Von nun an standen noch volle sechs Wochen vor uns, angefüllt mit einem reichen Programm. Wir bauten mit Besuchern Windmühlen und Biogasanlagen, reparierten Fahrräder, lernten klassische Massage, Akupressur, Yoga und Kundalini-Meditation. Wir sahen Theater, hörten Musik oder tanzten auf dem Dorfplatz. Mit viel Ernst diskutierten wir die Notwendigkeit einer Ökobank (Netzwerk gab es noch nicht) und über eine Sinngebung in einem entleerten Dasein (sofern man nicht die Kräfte der Zerstörung als den Kompost für den Phönix ansieht). Wir lernten das Know-How zum Hüttenbau, sodaß unser Dorf nie zu wachsen aufhörte, fantasierten uns in Bilder wie: Wir montieren unsere Sonnenkollektoren auf die Dächer des benachbarten Kongreßzentrums. Wir hätten am liebsten unsern Platz besetzt, um das Dorf nicht wieder abreißen zu müssen , wollten es zu einer ständigen Einrichtung werden lassen. Impuls auf Impuls ging von dem Ort aus, formte uns, zündete Kräfte an, die in uns verschüttet lagen. Und zwischen all dem schwebte ein steter Hauch eines bitter-süßen Eros, brachte Tränen und Freuden zum überfließen. Das hatte nur noch wenig mit dieser knochentrockenen Ausstellung „Umdenken-Umschwenken“ zu tun, die wir aus der Schweiz nach Berlin geholt hatten. Dennoch bildete dieses Ausstellung unser Rückgrat, nur fehlte in ihr wie in allen solchen musealen Formen der lebendige Mensch. Wir stellten uns selbst aus. Mehrere Filme wurden über dieses Festival gedreht, von denen einer noch gelegentlich gesehen werden kann: „Wer keinen Mut zum Träumen hat, hat keine Kraft zum Kämpfen.“

Der Film wird gezeigt am 11.und 12.Juni im Ufa I, 20 Uhr, Ufa-Gelände, Viktoriastr. 13, 1-42

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