: Premiere: Genscher-Rede in Potsdam
■ Europäer sollen Chance des neuen sowjetischen Denkens nutzen / System kooperativer Sicherheit angestrebt / US-Vertreter mäßigen Hoffnungen auf das Haus Europa, das nun auch in der DDR Thema ist / Beloh
Premiere: Genscher-Rede in Potsdam
Europäer sollen Chance des neuen sowjetischen Denkens nutzen / System „kooperativer Sicherheit“ angestrebt / US-Vertreter mäßigen Hoffnungen
auf das Haus Europa, das nun auch in der DDR Thema ist /
Belohnung der sowjetischen konventionellen Abrüstung mittels Wirtschaftshilfe?
Von Holger Eckermann
Berlin (dpa/taz) - Ausgerechnet durch die „Agentenschleuse“ an dem alliierten Grenzübergang Glienicker Brücke wollte Hans-Dietrich Genscher nach Potsdam fahren. 20 Minuten ließen ihn Grenzer warten, die ihn in Dreilinden erwartet hatten. Der gebürtige Hallenser fuhr als Redner in die DDR, die er sonst jährlich privat besucht.
„Neue Wege zur Ost-West-Sicherheit“ hieß ein Symposium, das vom New Yorker Institut für East-West Security Studies veranstaltet wurde. 178 außenpolitische Experten aus 19 Ländern nahmen daran teil.
Genscher hob die Vorbildfunktion der deutsch-deutschen Beziehungen für den Ost-West-Dialog hervor. „Anachronistisch“ wirke aber alles, „was uns künstlich trennt, Mauer und Ausreisebeschränkungen sind solche Relikte“. Wer Europa als Ganzes begreife, müsse jeden Schritt zum Abbau des Trennenden wollen. Das verlange auch, daß Beschränkungen des wirtschaftlichen und technologischen Austauschs auf das „wirklich unverzichtbare Maß“ reduziert würden. „Wir wollen niemanden wirtschaftlich in die Knie zwingen, wir wollen auch niemanden in die Ecke rüsten, wir wollen nicht destabilisieren“, unterstrich der Außenminister.
Er habe schon früh dazu geraten, Michail Gorbatschow ernstzunehhmen und sehe sich nun durch viele im Westen bestätigt, die vorher skeptischer gewesen seien als er, sagte Genscher: „Inzwischen sind in wichtigen Fragen den Worten Taten gefolgt.“ Die sowjetische Reformpolitik sei nicht von der westlichen Zusammenarbeit abhängig, aber beschleunigt werden könne sie mit westlicher Hilfe sehr wohl.
Auf alliiertes Anraten hin mied Genscher einen abendlichen Empfang in Ost-Berlin bei DDR-Staats- und Parteichef Honecker. In seinem Hotel traf er mit DDR-Außenminister Fischer zusammen. Fischer hatte erstmals aus DDR-Sicht das Haus Europa skizziert. Sein Grundriß reiche vom Atlantik bis zum Ural, die Hausordnung bestimme die Schlußakte der KSZE.
US-Vertreter reagierten widersprüchlich auf Genschers Gedanken. Der stellvertretende US-Außenminister Whitehead sagte, es gebe zwar positive Entwicklungen im Bereich der Menschenrechte, aber solange kein vollständiger Wandel vollzogen sei, könne niemand sicher sein, daß die Verbesserungen von Dauer seien.
Bei der Ausfuhr moderner Technolgie in Ostblockstaaten müßten Sicherheitsüberlegungen nach wie vor Vorrang haben, äußerte der US-Handelsminister Verity. Der New Yorker Investment-Bankier George Soros schlug den Europäern vor, eine Kreditbank zu errichten, die sowjetische konventionelle Abrüstung mit Wirtschaftshilfen belohnen solle. Ein Haus Europa, so deutete Whitehead an, sei ohne Kanada und die USA nicht denkbar.
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