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Kulturrevolution im Kreml

Am dritten Tag der Allunions-Konferenz in Moskau reden die Delegierten Tacheles: Abtritt Gromykos gefordert / Abschaffung der Ministerien verlangt / Reformgegner sollen verschwinden / Kompromiß im Konflikt um Berg-Karabach angedeutet  ■  Von Alexander Smoltczyk

Berlin (taz) - „Parteikonferenz der KPdSU fortgesetzt“ - dem 'Neuen Deutschland‘ ist die Palastrevolte, die sich seit Mittwoch in der Moskauer Großen Kongreßhalle abspielt, nur eine Kurzmeldung auf Seite fünf wert. Zu Recht vermutlich, denn die Informationen, die aus den Mauern des Kreml dringen, müssen jedem Parteifunktionär Existenzängste einjagen. So erdreistete sich gestern der Parteichef der autonomen Republik Komi (Ural), Wladimir Melnikow, im Namen seiner Wähler zu fordern, daß alle Politiker, die unter Breschnew Verantwortung getragen hatten, aus der Partei und den Behörden entfernt werden sollten. Auf die direkte Frage Gorbatschows, wen er denn damit aufs Korn nehme, antwortete Melnikow, er beziehe das vor allem auf das Staatsoberhaupt, den ehemaligen Außenminister Gromyko. Aber auch auf den Chefredakteur der 'Prawda‘, Viktor Afanasjew, und den Leiter des Nordamerika-Instituts, Georgi Arbatow.

Diese Kritik an zwei expliziten Befürwortern der Perestroika kann als Versuch verstanden werden, Parteichef Michail Gorbatschow als einen Mittler zwischen den beiden Flügeln zu präsentieren und die Position der Reformer quasi dialektisch zu stärken.

Auch der Leiter einer Hühnerfarm aus Gorbatschows Heimatort Stawropol forderte, sich aller Reformgegner radikal zu entledigen: „Aber Sie, Michail Sergejewitsch, sind von Natur aus human“, fügte er bedauernd hinzu. Gorbatschow antwortete daraufhin direkt: „Du hast den Michail Sergejewitsch etwas zu einfältig dargestellt. Von oben haben wir schon vieles versucht. Dabei kommt nichts heraus.“ Man müsse gegen die Bürokraten über die Massenmedien, die Wirtschafts- und die politische Reform vorgehen, „dann wird ihnen der Boden unter den Füßen heiß“.

Doch auch dem Generalsekretär selbst wurde auf der gestrigen Sitzung eingeheizt. Ein Walzwerkarbeiter aus Nischni Tagil im Ural erklärte: „Bei uns fragen die Arbeiter, wo die Perestroika bleibt.“ Fortsetzung auf Seite 2

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Die mangelhafte Versorgung sei wie früher. „Fleisch gab es damals nicht und Fleisch gibt es auch heute nicht.“ Andere Waren seien ganz in der Versenkung verschwunden. Andere Deputierte warfen den Ministerien vor, die Wirtschaftsreform zu sabotieren. Und im Gegensatz zu ihren DDR-Kollegen war TASS kühn genug zu schreiben, daß die Vertreter von Industrie und Landwirtschaft „mit einer Stimme“ erklärt hätten: „Die Ministerien in ihrer heutigen Form brauchen wir nicht.“ Immer noch versuchten Planfetischisten, die Betriebe durch strenge Auflagen an der kurzen Leine zu halten. Als revolutionär könnten sich die Vorstellungen des westsibirischen Delegierten Vadim Bakatin erweisen: Er forderte, daß die Betriebe in ihren Abgaben an die lokalen Sowjets zahlen müßten, anstatt an das zentrale Finanzministerium in Moskau. „Das ist das Hauptziel unserer Konferenz. Ohne die Unabhängigkeit der Betriebe von den Ministerien haben die lokalen Sowjets, gewählt oder nicht, gar keine wirkliche Macht“, sagte Bakatin.

Sowjetische Funktionäre bestätigten, daß der Wortführer der Konservativen Ligatschow, nicht mehr für Ideologiefragen zuständig ist. Diese Aufgaben nimmt jetzt der Gorbatschow -Vertraute Yakowlew ein.

Stellenweise erinnerte die gestrige Sitzung an die Plauderstündchen mit Geschichten aus der real existierenden Absurdität hyperzentralistischen Planens: So berichtete Bakatin, daß Vertreter von Kohlegruben in Moskau monatelang nach dem verantwortlichen Mann gesucht hätten, der den Verkauf ihrer überschüssigen Kohleförderung ins Ausland genehmigen mußte.

Am Mittwoch war von dem Wirtschaftsexperten Abalkin und dem Filmregisseur Klimow der Vorschlag Gorbatschows kritisiert worden, die Parteichefs auf allen Ebenen mit den Posten der Vorsitzenden der Sowjets in Personalunion zu verbinden. Gorbatschow erwiderte daraufhin gestern, die Kritiker hätten die politischen Strukturen nicht genügend analysiert. Der Chef der ZK-Propaganda-Abteilung Juri Skljarow fügte hinzu, die Vorstellungen Gorbatschows (die vorher mit der Mehrheit im ZK nicht abgesprochen worden seien) würde eine entscheidende Machteinbuße für den Parteiapparat bedeuten.

In der Nationalitätenfrage ist es bisher nicht zu Auseinandersetzungen zwischen den Delegationen aus Armenien und Aserbeidschan gekommen. Im Gegenteil: Die Parteichefs beider Republiken luden gemeinsam alle Schuld an der Lage in Berg-Karabach auf ihre jeweiligen Amtsvorgänger ab. Der nach den Pogromen in der autonomen Provinz zum Parteichef in Aserbeidschan ernannte Abdul Rahman Wesirow sprach von einem „gesellschaftlich gefährlichen Chrarakter“, den der Streit um Berg-Karabach angenommen hätte. Er regte an, ein Nationalitätenministerium oder ein „Staatskomitee für die Beziehungen zwischen den Nationalitäten“ zu schaffen. Auf einer Pressekonferenz der armenischen Delegation wurden dagegen drei Kompromißlösungen vorgeschlagen. Karabach könnte entweder vorübergehend der sowjetischen Zentralverwaltung in Moskau unterstellt oder der Sowjetrepublik Rußland angegliedert werden, erklärte Sergei Ambartsumian, Direktor der Universität von Eriwan. Als neuen Vorschlag brachte er die salomonische Idee auf, Karabach nach indischem Vorbild provisorisch einer Präsidialregierung zu unterstellen. Seiner Ansicht nach bestehe zwischen diesen drei Lösungen und der von Gorbatschow ausgesprochenen Weigerung, die Grenzen innerhalb der Sowjetunion zu verändern, kein Widerspruch.

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