: „99,99 Prozent-sichere Giftanlage“ - Explodiert
Explosion eines Chemiekessels im italienischen Massa Carrara / Giftwolke löste Massenflucht aus / Behörden spielen Folgen der Explosion herunter / Jetzt hat ein Staatsanwalt die sofortige Schließung der Chemiefabrik Farmoplant verfügt ■ Aus Massa Carrara W.Raith
Das Ganze war, natürlich, wieder einmal ganz, ganz harmlos „auch wenn einen ein solcher Knall, noch dazu am Sonntag morgen, schon mal erschrecken kann“: Der Knall also war's, der sich unziemlich benommen hat, jedenfalls wenn man dem Sprecher aus dem Innenministerium und der Region Toskana glaubt. Daß am Sonntag früh um Viertel nach Sechs ein Kessel mit 50.000 Litern der hochgiftigen Pflanzengifte Rogor und Cyclohexanon in die Luft geflogen war und brannte; daß eine mehrere Kilometer breite schwarze Wolke von dem Gelände der Chemiefirma Farmoplant bei Massa gegen Norden und dann gegen Osten zog; daß am Sonntag die Bürger aus Protest die Zugangswege zur Fabrik blockierten und versuchten, das Rathaus zu besetzen; daß Hunderte von Menschen mit Brechreiz und Augenbrennen in die Kliniken kamen - all das ist nach amtlicher Meinung wohl mehr der Hysterie zuzuschreiben als der Realität. Auch daß es am Nachmittag, zehn Stunden nach dem Knall, noch immer nach faulen Eiern und Chlor stinkt, so daß wir gerne die unbequemen Atemmasken überziehen, hält einer der amtlichen Berufsherunterspieler eher für Show und hält sein Gesicht frei - mit Todesverachtung. Nach einer halben Stunde kann er nicht mehr sprechen, weil natürlich auch er wie wir alle eine total trockene Kehl hat, muß husten („Das hatte ich schon vorher“), hat gerötete Augen, aber er bleibt - trotz des eben von ihm selbst verkündeten Badeverbots für mehr als einen Kilometer Küste - eisern: „Gründe für eine Massenflucht gab es allenfalls im Psychologischen, nicht in der Realität.“
Solch eherne Festigkeit werden in der nächsten Zeit wohl noch weitere Beamte brauchen können: die Schlaumeier des Verwaltungsgerichtshofes der Toskana z.B., die erst vor einer Woche in ihr Urteil zur Wiederinbetriebnahme der Chemiefabrik hineinschrieben: „Die Anlagen sind in dem höchsterreichbaren Maße, nämlich zu 99,99 Prozent, sicher.“
-„Toll, was so ein 0,01 Prozent noch alles für herrliche Effekte hat“, entfährt es da einem Stadtpolizisten, der, nun in Zivil, bei der Demonstration vor dem Rathaus Despektierliches über Politiker und Beamte ruft: „Heut‘ früh waren wir genau sechs 'Vigili urbani‘, die den Massenexodus leisten mußten.“
Die Behörden fielen wieder mal aus allen Wolken, setzten erst gegen acht Uhr - als bereits 50.000 Menschen aus der Stadt flüchteten, einen Notstandsplan in Kraft. Vom eigens für solche Fälle geschaffenen Zivilschutzministerium sieht man bis zum Nachmittag niemanden, die Maßnahmen leiten ein regionaler Gesundheitsdezernent und ein Staatssekretär des Innenministeriums. Der Bürgermeister von Massa ist nicht aufzutreiben, sein Vorgänger bekommt daher die Vorwürfe zu hören und auch ein paar kräftige Ohrfeigen stellvertretend für den ganzen Stadtrat. Der allerdings ist die falsche Adresse - denn der Magistrat von Massa hat nach einem Volksentscheid im Oktober vorigen Jahres gegen die Farmoplant-Anlage die Betriebsgenehmigung der hochgefährlichen Firma zurückgezogen. Er mußte sie aber auf dem Weisungsweg von vergangener Woche wieder erteilen. Jetzt erst, nach der Explosion, handeln die Justizbehörden gegen die Chemiefirma: Gestern hat die Staatsanwaltschaft die Schließung von Farmoplant verfügt.
Doch die Schuld am Desaster trifft nicht nur die Naivlinge in der Richterrobe - ein Gutteil der Schuld tragen auch die Gewerkschaften und ein paar Hundertschaften Arbeiter: Sie nämlich haben sich - mit dem berühmten Argument der im Fall Farmoplant ca. 280 Arbeitsplätze - den von Grünen und Umweltschützern seit Jahren ausgearbeiteten Plänen einer Demontage der staatseigenen Firma und zur Umwandlung in eine Zone für Handwerk und Kleinindustrie widersetzt.
Am Sonntagnachmittag, die Rauchwolke war vom Wind Richtung La Spezia abgetrieben und die ersten Flüchtlinge kehrten wieder zurück, neue Schreckensschreie: Im Radio malt ein Sprecher aus, wie knapp man an einer Katastrophe vorbeigeschrammt war, die „gut und gerne die im indischen Bhopal vor zehn Jahren hätte übertreffen können“. Wenige Meter neben den explodierten Kesseln waren just jene Substanzen gelagert, die bei einer Explosion Zyankali freisetzen können. Und „selbst bei einer Beschädigung weniger gefährlicher Behälter“, berichtet der grüne Regionalabgeordnete Enrico Falqui, „hätte es noch Hunderte von Toten gegeben, durch gewaltige Brände wie durch Chemikalien“.
In solchen Momenten werden auch hartgesottene Betriebsmanager gesprächig - und so hat Falqui denn auch herausbekommen, daß der Leitende Direktor schon eine halbe Stunde vor der Explosion aus dem Bett geklingelt worden war; mit der zunächst gestreuten Hypothese eines anarchistischen Anschlags ist es also nichts. Und der Regionaldezernent für öffentliche Anlagen, sonst nicht eben ein Anhänger der Transparenz im Lande, verteidigt die Tatsache hochgefährlicher Anlagen auf seinem Terrain mit dem schon fast rührenden Hinweis, „daß es in anderen Regionen noch viel mehr davon gibt“. Da hat er recht. 'L'Unita‘, die kommunistische Parteizeitung und ansonsten - wegen Arbeitsplätzen - nicht immer in vorderster Linie beim Schutz vor Zeitbombem, veröffentlicht am Montag eine Landkarte mit „Anlagen von höchster Gefährlichkeit“. Es sind genau 391.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen