: Freunde kommen pünktlich
■ Anmerkungen zur Philosophie des Zuspätkommens
45 Minuten lang läßt mich meine beste Freundin Doris im Regen warten. Ich koche. Wir waren vor dem Eingang des Theaters verabredet. Weil wir nicht in der letzten Reihe genau vor dem Pfeiler sitzen wollten, hatten wir beschlossen, zeitig zu kommen. Die Regentropfen kullern in meinen Nacken, die durchnäßten Nylonstrümpfe kleben an der Beinen (iiih, nylons. sezza). Ich stehe mit den beiden Karten in der Hand vor dem Eingang und kann nicht herein. Weit und breit ist keine Doris in Sicht.
Kann sie sich nicht vorstellen, daß ich etwas besseres zu tun habe, als stundenlang zu warten? Es ist immer dasselbe. Seit Jahren versuche ich ihr klarzumachen, wie entwürdigend ihr Verhalten ist. Ich freue mich auf ihr Kommen, aber sie hält mich hin und verwandelt meine Freude in quälende Langeweile.
Zuspätkommen gilt als Beweis, nicht spießig zu sein. Doris‘ Verhalten wurmt mich insbesondere, wenn ich sehe, wie superpünktlich sie gegenüber ihren Vorgesetzten bei der Arbeit ist. Manchmal glaube ich, daß die Deutschen im Grunde ihres Wesens das unpünktlichste Volk der Welt sind. Weswegen sonst legen die Chefs in diesem Land soviel Betonung auf die Pünktlichkeit ihrer Untergebenen. Im Unterschied zu mir haben sie jedoch Autorität über ihre Mitarbeiter. Aus der als Höflichkeit gemeinten Pünktlichkeit wird ein Unterwerfungsakt. Die Vorgesetzten sitzen eben am längerem Hebel, sie zahlen die Gehälter und bewahrheiten das frühkapitalistische Sprichwort: Zeit ist Geld. Meine Zeit ist für Doris kein Geld, sondern nur ein Freundschaftsbeweis, der nichts kostet und auch keinen Gewinn bringt. Da kann man ruhig mit schludern. Es ist inzwischen fünf nach acht. Ich bin stinkesauer und will Doris‘ Eintrittskarte zurückgeben. In diesem Augenblick kommt sie angehechelt. „Entschuldige, ich habe mich ein wenig verspätet ...“ Mist, denke ich und schlucke meine Wut hinunter. Ich hätte viel früher hineingehen sollen. Dann hätte sie zwei Karten gekauft, und im Regen auf mich gewartet. Warum soll man eigentlich Rücksicht auf Rücksichtslose nehmen?
E.K.
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