piwik no script img

„Achtung Moskau, ich empfange Ihren Ton...“

■ Am Freitag abend wurde die erste Live-Radiobrücke zwischen Berlin und Moskau geschlagen / Zwei Stunden Glasnost live mit Diskussionen zwischen Jugendlichen in beiden Studios, Reportagen, Musik und Kommunikationsproblemen

„Hallo Berlin, empfangen Sie unseren Meßton?“ 17.21 Uhr, der Techniker im Studio des SFB kommt ins Schwitzen. Noch 44 Minuten, dann soll die erste Live-Radiobrücke zwischen Berlin und Moskau geschlagen sein. 17.29 Uhr: „Achtung Moskau, ich empfange Ihren Ton, welchen Pegel haben Sie?“ Die Funkleitung steht, und damit ist für die drei Studiogäste Marc (17), Ellen (25) und Michael (28) klar, daß sie live mit drei Jugendlichen in Moskau diskutieren werden.

Anheizen sollten die knapp zweistündige Sendung, zu der sich um 20 Uhr auch Radio Bremen zuschaltete, Beat- und Popsongs von hier und dort sowie Diskussionen zwischen Jugendlichen in beiden Studios. Basis dafür waren je drei Reportagen von deutschen und sowjetischen Journalisten: von den Mitarbeitern der Presseagentur 'Nowosti‘ Andrej Loskutov und Dmitrij Tulschtschinskij und von SFB-Reporter Christian Booß. Der berichtete von Pjotr, dem Punk mit den Sicherheitsnadeln, der von einem „Boulevard der Liebe“ in Moskau und einem „Bier-Trip“ in den Westen träumt. Der zweite Beitrag behandelte die erste Moskauer Hausbesetzung, der dritte die Auswirkungen von Glasnost und Perestroika in Schule und Betrieb. Die Moskauer Journalisten hatten sich im Gegenzug in Berlin mit Auszubildenden bei Siemens unterhalten, eine Umweltschutzgrppe und das alternative Wohn - und Arbeitsprojekt UFA-Fabrik besucht.

Doch gerade diese Reportage wurde zu einer Quelle von Mißverständnissen. Das Wort „Kommune“, mit dem die sowjetischen Berichterstatter die UFA-Fabrik belegt hatten, wurde zum Reizwort für die Russen. Denn als „Kommunalnaja Quartira“ werden in der Sowjetunion große Altbauwohnungen bezeichnet, die man, im Rahmen der Wohnungszwangswirtschaft der Gemeinden, für mehrere Parteien unterteilt. Daß eine dreiköpfige Familie darin nur ein Zimmer bewohnt, war bis vor kurzem noch die Regel. Die „Kommunalwohnungen“ gelten daher als Schandflecke der Wohnungsbaupolitik und Kristallisationsherde von Alltagsfrust.

So verhallten die Erklärungen der jungen Berliner, daß man ja auch freiwillig und dazu unter erfreulichen Umständen zusammenwohnen könne, auf Moskauer Seite unverstanden.

Ganz und gar nicht typisch dagegen: die öden Popsongs, mit denen Radio Junost allzuhäufig die Sendung eher unterkühlte. Die sowjetischen Anhänger von Gruppen wie „Reine Liebe“, „Primus“ (beide Moskau) oder „Nautilus“ (Swerdlowsk) haben angesichts dieser Qualität wohl mit schamroten Ohren vor ihren Empfängern gesessen. Die Songs dieser Gruppen mit politischen Titeln wie „Wir Hasen“, „Die khakifarbene Weltkugel“, „Good bye America, wo ich noch niemals war“ oder gar „Mein Freund ist nicht schwul“ klangen den Moskauer Organisatoren für Ost und West nicht jugendfrei genug.

Ihrer Aufgabe als Experiment wurde die Sendung jedenfalls gerecht: Sie zeitigte Erkenntnisse. Vor allem die Einsicht, daß die Perestroika in der sowjetischen Radiokultur noch einen weiten Weg vor sich hat - auch Improvisieren und frei Diskutieren will schließlich geübt sein. Zu der Hauptveränderung in ihrem eigenen Leben äußerte sich eine der russischen Teilnehmerinnen konkret: „Ich habe immer schon so gedacht wie heute, aber früher habe ich auf der Arbeit das eine geredet und zu Hause in der Küche etwas anderes. Jetzt sage ich überall, was ich will.“ Und was hat sich für die Berliner Teilnehmer nach der Sendung geändert? So richtig enttäuscht war nur Marc: „Ich hatte von dem ganzen mehr erwartet und mir alles einfacher vorgestellt.“ Ellen: „Ich war verblüfft, daß wir heute offenbar noch immer nicht an einem Punkt sind, wo man so einfach miteinander sprechen kann. Ich hab‘ mir ja auch vorher nie Gedanken gemacht, wie die Leute konkret leben!“ Michael, der Jungunternehmer: „Ich war doch erstaunt, wie sehr sich das Leben hier und dort unterscheidet. Die haben schon wesentlich andere Probleme als wir.“

Alle drei waren sich einig: sie seien zu „neugierig“ geworden, um auf die Freundschaftsinitiative zu warten, die das Radio-Junost-Team vorgeschlagen hatte - einen Jugendaustausch unter der Schirmfrauschaft der ehemaligen Astronautin Valentina Tereschkowa. Ellen, Marc und Michael sind entschlossen, so bald wie möglich auf eigene Faust nach Moskau zu fahren. Denn, so formulierte Jungunternehmer Michael: „Die Kommunikation braucht konkrete Schritte.“ Und was brauchen die Radiobrücken? Moderator Leonid Assajew erkannte es zum Schluß: „Entweder viel mehr Zeit oder weniger Musik.“

Barbara Kerneck

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen