: Literatur-Zeitschriften
■ Literatur Bulletin / Passagen / Flugasche / Kopie-Kunst / Tapier / Tipex 9 / Zeilensprung / Der Sanitäter / Der Alltag / Schreibheft
Es gibt keine literarische „Gegenöffentlichkeit“ mehr. Jene kleinen Magazine am Rand des Literaturbetriebs, die einst angetreten waren, die herrschenden literarischen Produktionsverhältnisse zu verändern und der Suhrkamp-Kultur Paroli zu bieten, sind mittlerweile abgesunken in eine Melange aus Biederkeit, Flachsinn und Inkompetenz, die jeden literarischen Impuls im Brei des Mittelmaßes erstickt. Das subliterarische Netzwerk aus Kleinverlegern, Multimedia -Künstlern, Gelegenheitsdichtern und anderen Biertrinkern, das sich gelegentlich auf schlechtbesuchten „Mammutlesungen“ noch zusammenfindet, inszeniert nur noch seine eigene Entbehrlichkeit. Seit Helmut Salzinger im Dezember 1986 den 'Falk‘ eingestellt hat, scheint im Bereich der Mini-Pressen der Abgrund der Langeweile erreicht. „Literatur hat einen Platz in der Gegenwart (...) sie sollte in den Nerv ihrer Zeit stechen und dort schmerzen. Dies dürfte uns jungen Autoren leichter fallen als den etablierten und so gezähmten Elefantenbullen bei Suhrkamp und Luchterhand, da wir in diese Zeit hineingewachsen und von ihr geformt sind.“ In der Diktion geschwätziger Kulturreferenten verbeitet sich eine Kolumnistin im Münchner Literatur Bulletin über „die Schwierigkeiten mit einer zeitgenössischen Literatur“. Schwierigkeiten bereitet den Autoren und Autorinnen dieses Heftes aber vor allem die eigene Sprache, mit der sie „schmerzhaft“ in den „Nerv der Zeit“ stechen wollen. Den traurigen Gipfel der literarischen Ahnungslosigkeit erklimmt das 'Literarische Bulletin‘ mit seiner alternativen Bestenliste. Auf Platz Acht seiner „Top Ten der lebenden deutschsprachigen Autoren“ plaziert ein Herr Basse den Gedichtband „Lauter letzte Worte“ von Dieter Leisegang. Der Lyriker Dieter Leisegang ist aber am 21.März 1973 gestorben: Vier Monate nach seinem dreißigsten Geburtstag schoß er sich eine Kugel in den Kopf. Leider deutet nichts daruf hin, daß der Bestenlisten-Führer den Hinweis auf den toten Dichter in einer Art lakonischer Reminiszenz in seine „Top Ten der lebenden Autoren“ eingeschmuggelt haben könnte. Es triumphiert statt dessen die absolute Ahnungslosigkeit.
Mit aller Liebe zum Gemeinplatz und zur Stilblüte, die ein frischgekürter Chefredakteur einer Literaturzeitschrift aufbringen kann, buhlt Helmut Riemenschneider im Editorial der Mannheimer Literaturzeitschrift Passagen um Leser(innen). Wie soll man der behaupteten „literarischen und künstlerischen Vielfalt der Region“ Glauben schenken, wenn schon im programmatischen Vorwort das Gesumm des Literaturbürokraten jedes Interesse absterben läßt: „Das Aufzeigen kreativen Schaffens in Galerien, auf Bühnen und in Ateliers wird stetig auf die inhaltliche Gestaltung unserer Zeitschrift einwirken. Auch der Leser sei hiermit aufgefordert, seine Meinung kundzutun.“ Das will ich gerne (kund)tun: Durch die betuliche Einkleidung in den Hochglanz -Charme eines Sparkassenprospekts erscheinen die 'Passagen‘ eher als Werbebroschüre des Kulturamts denn als originäre Literaturzeitschrift. Dieser Eindruck verstärkt sich bei der Lektüre der apologetischen Artikel über regionale Künstler. Obwohl auch prominente Autoren (Wolfgang Rohner-Radegast, Michael Buselmeier) mit brauchbaren Texten für das erste Heft gewonnen worden sind, kann eine Lust am Text gar nicht erst aufkommen.
Zu den beliebtesten Unarten der Magazine, die sich im modernden Abseits einrichten und gleichzeitig ein pseudo -avantgardistisches Maulheldentum zur Schau tragen, gehört auch ihre inflationäre Verbreitung von Gefälligkeitsrezensionen. Unerkannte junge Dichtertalente versorgen sich gegenseitig mit schlauen Lobeshymnen und so ist die „Erlangung der niederen literarischen Weihen“ (Klaus Sandler) sichergestellt. Zwar bleibt die Veröffentlichung dieser Rezesionen wirkungsloser, als wenn der Jungdichter den Text seiner wohlmeinenden, aber verständnislosen Großmutter vorlesen würde, aber die Initiation in die Schriftstellerexistenz ist vollzogen. So preist der Kritiker des Paderborner Magazins Tipex den „in Szene-Kreisen bekannten jungen Düsseldorfer Avantgarde-Autor“ A.J. Weigoni als „besessenen Sprachforscher“ an, der beim Leser „die sprachkritische Sensibilitätskurve“ ansteigen lasse. Die Stuttgarter Zeitschrift Flugasche hebt dann gleich ab in den literaturkritischen Superlativ: „Weigoni, der Sprachphönix, der mephistophelische Bedeutungstänzer, der auch einen Arno Schmidt noch atemlos in seinen Sprachkaskaden hätte umherirren lassen?“ Schon die unerträgliche Katzbuckelei des Gefälligkeitsrezensenten vor dem vermeintlichen Avantgarde -Autor verrät die alternativ-literarische Vetternwortschaft. Das Gespenst der Avantgarde, das hier aufgebläht wird, erweist sich schon bei oberflächlicher Prüfung als ein Ausbund an Harmlosigkeit. In Kopie-Kunst, einer „Zeitschrift für mentales Jogging“, die sich vom dumpfen Bier-Ernst des avantgardistischen Gefuchtels bislang freigehalten hat, skizziert A.J. Weigoni gemeinsam mit Enno Stahl sein literarisches Manifest: „der autor als saboteur, ein agent der ungezügelten leidenschaft. dis is total oral! & in drei phasen aufzuteilen: 1. aufknacken des semantischen codes. 2. dokumentation der auflösung des zeichens. 3. reine materie... 'Sinn‘ ist schon o.k. - wenn er 1 Form von fake -jazz ist.“ Die Lust am Aufsplittern der Syntax und am Sabotieren semantischer Sprachkonventionen, die hier ostentativ beschworen wird, verdankt sich in diesem Fall nicht einem artistischen Sprachbewußtsein, sondern ausschließlich dem Bluff mit zeichentheoretischen Termini. Tatsächlich kommt bei Weigonis dürftigen Wortspielchen nicht mehr heraus als eine Schwundform der experimentellen Literatur. Die Arbeit der meisten Copy-Aristen und Mail-Art -Künstler in 'Kopie-Kunst‘ schmückt sich - zu ihrem Vorteil
-nicht mit den maßlosen Kunstansprüchen der selbsternannten Avantgarde, sondern präsentiert sich als das, was sie ist: „mentales Jogging“, visuelle Kleinkunst mit den diversen Medien aus dem Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit. Hervorzuheben sind dabei die ästhetisch reizvollen Collagen von P.L.G. Friesländer und Martin Kaufmann. Auch in 'Tipex‘ und in der 'Flugasche‘, die sich mit den Weigoni-Hymnen ein rechtes Windei ins Rezensions-Nest gesetzt haben, sind einige interessante Entdeckungen zu machen: Als die Ausnahmen von der Regel der Mittelmäßigkeit erweisen sich: in 'Tipex‘ eine Polemik gegen die Herrschaft der Beliebigkeit in der Ästhetik, in der 'Flugasche‘ ein schönes Porträt des früheren „März„-Autors Manfred Esser und einige kryptische Zeichnungen und Schrift-Bilder von Oskar Pastior.
Als „Festschrift für Oskar Pastior“ ist Heft 2 von tapir, einem Nachfolgeunternehmen der Münchner Literaturzeitschrift Federlese angelegt. Es enthält neben freudlichen Widmungsgedichten und kauziger Geburtstagsprosa auf den akrobatischen Sprachbastler und Wörternarr Pastior auch eine grimmige Kritik am Meister: „Pastior für Nicht-Pastioren was sagt Pastior einem 23-jährigen Kaufmann?“ Auch ein Sprachartist wie Pastior, so moniert Jürgen Scharrer, kann dem geschwätzigen Literaturbetrieb nicht entrinnen. Seine Fans machen ihn zur Kultfigur: „Du widersprichst ihnen und kommst dir vor wie everybodys Arschloch. Pastior und Fans sind unangreifbar wie Baghwan. Sie wissen was, was du nicht weißt.“
Was Scharrer etwas vorschnell Pastior zuschreibt, ist in Wirklichkeit das Rezept des Pseudo-Avantgardismus aus der „Szene“: Geheimniskrämerei ohne jegliche Substanz. Der angestrengte Avantgardismus, den Enno Stahl in seiner Zeitschrift Zeilensprung feilbietet, macht immerhin sein Vorbild kenntlich: Es ist das kryptogrammatische Schreiben von Frank-Wolf Matthies, der im 'Zeilensprung‘ unter eigenem Namen und, so darf spekuliert werden, unter Pseudonym als sein eigener Interpret publiziert. Das esoterische Spiel mit literatischen Anspielungen und chiffrierten (Selbst)Zitaten, das Gemenge aus privaten Notizen und ästhetischen Reflexionen verbraucht schnell seine provokative Kraft, und transportiert nur noch die private Eitelkeit des Autors.
„Der entscheidende Augenblick der menschlichen Entwicklung ist immerwährend. Darum sind die revolutionären geistigen Bewegungen, die alles frühere für nichtig erklären, im Recht, denn es ist noch nichts geschehen.“ Der Aphorismus Franz Kafkas aus den Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg ziert als Motto der Zeitschrift Der Sanitäter, nicht nur mit dem skurrilen Riesenformat von 41,5* 15cm die erfreulichste Neuerscheinung auf dem sonst öden Terrain der Kleinstzeitschriften. Von Avantgarde-Predigern, die das Programm für die Sache nehmen, wird man hier verschont. Zurecht beruft sich 'Der Sanitäter‘ auf Kafka, dessen Werk einem „Rhizom“ (Deleuze/Guattari) gleicht, einem labyrinthischen Bau, dessen Strukturgesetze man nicht genau kennt. Auch in die assoziativ strukturierten Traumtexte, die 'Der Sanitäter‘ präsentiert (von Hertha Müller, Pocia Event Horizon, Barbara Suckfüll), steigen wir irgendwo ein, ohne Kentnis der Ein- und Ausgänge, ohne zu wissen, über welche Verzweigungen und durch welche Gänge wir von einem Punkt zum nächsten gelangen können. „Das Prinzip der vielen Eingänge behindert ja nur das Eindringen des Feindes, des Signifikanten; es verwirrt allenfalls jene, die ein Werk zu 'deuten‘ versuchen, das in Wahrheit nur experimentell erprobt sein will.“ (Deleuze/Guattari) 'Der Sanitäter‘ hat für das nächste Heft Texte von Christof Wackernagel, Hilka Nordhausen, Michael Kellner u.a. angekündigt: Er sollte sich beeilen, um der dahinsiechenden „Gegenkultur“ Erste Hilfe leisten zu können.
Auch Der Alltag und das Schreibheft sind einst in den Nischen der subliterarischen Szene geboren worden. Aus dem alternativ-avantgardistischen Ghetto haben sie sich rechtzeitig befreit und gehören heute zu den lebendigsten und weltoffensten Kultur- bzw. Literaturzeitschriften, neugierig auf alles Schwierige oder scheinbar Ephemere, das durch die groben Maschen des Kulturbetriebes fällt. Im jüngsten 'Alltag‘ fasziniert wieder einmal die wunderbare Mischung aus Essay, Reportage und Alltagsethnographie. Harald Hartung schreibt in einem melancholischen Essay eine kleine Kulturgeschichte des Automobils: „Das Kunstschöne auf den Straßen altert.“ Stellvertretend für seine Generation der notorischen Nachzügler, die von der Studentenbewegung nur noch gestreift, aber nicht mehr mitgerissen wurde, und nun ohne kollektiv prägende Erfahrung zu altern beginnt, gesteht Harry Nutt seine Sport-Verrücktheit: „Vielleicht haben wir den emphatischen Augenblick einzig im Sport erlebt, in den Sekunden, als das dritte Tor in Wembley fiel, oder 1974, als Deutschland im eigenen Land Weltmeister wurde.“
Das 'Schreibheft‘ dokumentiert ein weiteres Mal Varianten einer artistischen Literatur der Sprachreflexion, die im direkten Vergleich die ganze Kläglichkeit der „szenischen“ Avantgarde offenbart. Mit Raymond Federman und Ronald Sukenick werden zwei Exponenten der modernen US -amerikanischen Literatur vorgestellt, die durch sprachzentrische Darstellungsformen die naive auktoriale Erzählweise überwinden. Die sprachspielerische Eigendynamik ihrer Texte, ihre Obsession auf Selbstreferenz, zeigt die Fruchtbarkeit einer literarischen Strategie, die alle vorhandenen sprachlichen Mittel und Schreibweisen bis an ihre Grenzen ausschöpft. In einem Gespräch erläutert Raymond Federman am Beispiel seines Romans Alles oder Nichts den sprachschöpferischen Impuls des Schreibens: „Wenn man plötzlich eine Silbe aus einem Wort heraustrennt, fängt man an, zu sehen, eigentlich zu hören, daß Wörter oft andere Wörter enthalten. So betrachtet, ist 'Alles oder Nichts‘ ein Baukastensystem, ein Kinderspielzeug aus Buchstaben mit Wörtern als Bauklötzen, und während man mit diesen Klötzen spielt, baut man Sätze, lernt man, eine Sprache zu bauen.“
Literatur Bulletin 10 (1988), Münchner Literaturbüro, Milchstraße 4, 8000 München 80, 24 Seiten, 2DM
Passagen 1 (1988), Postfach, 6800Mannheim 81, 48 Seiten, 6DM
Tipex 9 (1988, c/o R. Müller, Postfach 1304, 4790 Paderborn, 80 Seiten, 6DM
Flugasche 26 (1988), c/o Thomas Walter, Poppenweiler Straße 8, 7140 Ludwigsburg, 48 Seiten, 4DM
Kopie-Kunst 6 (1988) c/o Willem van Dijk, Gaisbergstraße 18, 6900 Heidelberg, 96 Seiten, 6DM
Tapier 2 (1987/88), Christian Rohr, Rudi-Seibold-Straße 14, 8000 München 21, 46 Seiten, 7DM
Zeilensprung 6 (1988), D. Pokoyski, Victoriastraße 15, 5000 Köln 1, 88 Seiten, 6DM
der Sanitäter 1 (1988), Peter Engstler, Oberwaldbehrungen 13, 8745 Ostheim, 16 Seiten 3DM
Der Alltag 1 (1988), Postfach 331, CH-8031 Zürich, 184 Seiten, 17 DM
Schreibheft 31 (1988), Nieberdingstraße 18, 4300 Essen 1, 176 Seiten, 12 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen