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Nichts Halbes und nichts Ganzes

■ Christa Mörstedt-Jauers Stadtführer Ost-Berlin „Die halbe Hauptstadt“

In FDJ-Blau der eine, in SED-Rot der andere: so liegen sie vor einem, die beiden zusammengehörenden Bände des Stadtführers, der uns „Ost-Berliner Ansichtssachen“ verspricht. Insgesamt 320 Seiten, geteilt in einen Band mit Hintergrundinformationen (zum Verbleib im Westen) und einen „Stadtführer zum Mitnehmen“. Geteilt ist nach der Lektüre auch die Meinung des Rezensenten. Denn beim ersten Teil handelt es sich um einen DDR-Infoband voller Fakten, aber ohne Konzept und mit nur wenig Berlin-Bezug. Und der ist dann auch noch ganz schön peinlich geraten: Zur „Geschichte Berlins“ präsentiert uns die Autorin wie in jedem 08/15 -Lexikon eine „Stadtgeschichte im Überblick“. Jahreszahlen, denen ein Ereignis zugeordnet wird, ein bis zwei Sätze lang: „1892: Das erste Auto wird zugelassen. Es gehört dem Warenhausbesitzer Rudolph Hertzog.“ Wie heißt es doch so schön im Vorwort: „Selbst, wer meint, Ost-Berlin gut zu kennen, wird noch (...) Informationen finden, die es so in anderen Büchern nicht gibt.“ In der Tat.

Der Rest der Stadtgeschichte besteht aus einer Auflistung von Kurfürsten, Königen und Kaisern, gefolgt von Kurzbiographien diverser Friedrichs, Wilhelms und Friedrich -Wilhelms, die einst in Berlin regierten. Wie die Arbeiter und Bauern damals lebten, das erfahren wir nicht. Endgültig lächerlich wird der Personenkult, wenn krampfhaft Goethe, Schiller und Voltaire mit der Geschichte Berlins in Verbindung gebracht und ausführlich gewürdigt werden: Goethe war fünf Tage in der Stadt, Schiller sechs, Voltaire schließlich sogar drei Jahre.

Da vermisse ich aber Karlchen Wannemacher aus Darmstadt, der neulich übers Wochenende hier war.

Nach der großen Geschichte würdigt Hausfrau Mörstedt-Jauer die Alltagsgeschichten und läßt sich seitenlang über die Unterschiede diverser Zigaretten- und Waschmittelmarken aus. („Menschen mit empfindlicher Haut sollten ihre Wäsche in Milwolk waschen.“) Ausführlich werden Autos beschrieben, und so weiß ich endlich, daß Erich Honecker „zwei graugrüne Citroen-Prestige vorbehalten (sind), an dessen Steuer er gelegentlich sogar selbst sitzen soll“, und daß das Kennzeichen eines Journalisten aus der Mongolei mit QA-10 beginnt.

Der zweite „Stadtführer zum Mitnehmen“ empfiehlt einige „Streifzüge“ durch Ost-Berlin, wobei die 30 Seiten über die jüdische Geschichte die interessantesten sind. Übersichtlich und gut sortiert der Anhang mit Museen, Theatern, Kneipen und Discos. Damit man seinen Zwangsumtausch nicht nur verfrißt, folgen am Schluß 40 Tips, wie man drüben seine Moneten wieder los werden kann.

Fazit: Nichts Halbes und nichts Ganzes.

Thomas Blees/West-Berlin

Christa Mörstedt-Jauer: „Die halbe Hauptstadt: Ost -Berliner Ansichtssachen“, Verlag Oberhofer, Xantener Str. 24, 1/15, 1987; Band 1 und 2 kosten 32,50 Mark plus 2,80 Mark Porto und Verpackung. Bestellungen nur beim Verlag (beide Bände gemeinsam im Paket; nicht einzeln erhältlich).

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