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SPD träumt von der Macht

Der SPD-Parteitag wurde in Münster eröffnet / Vorsitzender Vogel will bis 1990 sozialdemokratische Regierung / Verzicht des Vorsitzenden auf Selbstkritik  ■  Aus Münster Ch.Wiedemann

„Nicht die offene Diskussion schadet, sondern ein Diskussionsstil, der andere mit zerkratztem Gesicht zurückläßt“, mahnte Johannes Rau. Unter dem Motto „Zukunft kommt von selbst - Fortschritt nur mit uns“ versammelten sich gestern 440 Delegierte des SPD-Parteitages in Münster.

Die SPD als Regierungspartei im Wartestand, mit „Selbstdisziplin“ der Kritiker in den eigenen Reihen, harter Arbeit und ohne „quälende Bündnisdebatten“ - so entwarf der SPD-Vorsitzende Hans Jochen Vogel gestern die politische Rolle der Sozialdemokraten. Vogel: „Wir brauchen die Regierungsmacht. Die erstreben wir mit aller Konsequenz. Denn wir verspüren keine Lust zur Ohnmacht.“

Anders als bei seiner Amtsübernahme vor 15 Monaten waren die selbstkritischen Töne in der Eröffnungsrede Vogels vor den 438 Delegierten nahezu verstummt. Die Misere der CDU/FDP -Koalition und der „erbitterte Streit“ bei den Grünen habe der SPD genutzt. Ausgerechnet in dem Moment, als Vogel das „Chaos“ der Koalition beschwor, fiel im Plenum das Licht aus. Der Parteichef geistesgegenwärtig: „Wenn diese Passage zu Ende ist, kann das Licht ruhig wieder angehen.“ Die Beschlüsse des Münsteraner Parteitags, so Vogel, sollten der Beginn eines Regierungsprogramms sein. Umstandslos positiv bezog sich Vogel auf die sozialdemokratische Regierungs-Ära: „Von Tag zu Tag wird deutlicher: wir haben es in der Vergangenheit besser gemacht.“ Eine klare Absage an rot -grünes Liebäugeln markierte der Vorsitzende nicht nur durch die Bemerkung, bis zum Wahlpartei Fortsetzung auf Seite 2

tag 1990 soll die Bündnisdebatte nicht geführt werden, sondern auch durch einen Appell an die „bisherigen Grünen -Wähler“: Sie sollten „unsere realistische Reformpolitik“ unterstützen; bei den Grünen würden „Kräfte in einer frustrierenden Auseinandersetzung mit Fanatikern“ vergeudet.

Die erste wesentliche Entscheidung des insgesamt viertägigen Parteitags über die schrittweise Einführung einer Frauen-Quote bei Ämtern und Mandaten wurde erst für den späten Abend erwartet. In die Kontroverse über die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, dem zweiten Schwerpunkt des Parteitags, wird heute durch einen Alternativantrag von Teilen der Partei-Linken zusätzliche Bewegung kommen.

Zur wirtschaftspolitischen Kontroverse äußerte sich Vogel nur verhalten. Dem Kapital empfahl er sich durch ein Bekenntnis zum Wachstumskurs, Strukturwandel und der Notwendigkeit leistungsfähiger Unternehmen. Die Einführung der Frauen-Quote nannte er zwar die „andere Hauptbotschaft“ des Parteitags, widmete ihr in seiner anderthalbstündigen Rede jedoch nur wenige Sätze.In seiner „Vision“ einer Zukunfts-Gesellschaft, für die die Sozialdemkraten stehen müßten, fanden alle bekämpfenswerten Übel der Welt, nicht aber die Frauenunterdrückung Erwähnung. Der stellvertretende Parteivorsitzende Rau hatte über die Quotierung in seiner Eröffnungsrede kein einziges Wort verloren.

Alternativ zum wirtschaftspolitischen Leitantrag des Parteivorstands wird ein Teil der im „Frankfurter Kreis“ organisierten Partei-Linken heute einen eigenen Antrag vorstellen. Die Gruppe kritisiert am Leitantrag, daß die Neuverteilung von Arbeit und Einkommen nicht in erster Linie innerhalb der Arbeitnehmer stattfinden könne, sondern vor allem die Verwendung der Gewinne betreffen müsse. Die Kritiker wollen, daß nicht die Tarifpolitik, sondern die staatliche Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik der entscheidende verteilungspolitische Hebel sei. Sie wenden sich gegen das umstrittene Instrument staatlicher Lohnsubvention zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Statt durch tariflichen Lohnverzicht sollten Besserverdienende durch eine Ergänzungsabgabe herangezogen werden. Unternehmern müßte eine „Solidarsteuer“ für nicht investierte Gewinne auferlegt werden.

Auf spezielle Weise widmeten sich Abtreibungsgegner der SPD -Frauendiskussion: Mit den obligatorischen Embryo-Bildern traten sie vor der „Halle Münsterland“ in geballter Formation auf.

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