: Bonn schweigt zu dem Völkermord an den Kurden
Otto Schily, grüner MdB, zu der Passivität von EG und Bundesregierung angesichts des Vernichtungsfeldzugs der irakischen Armee gegen die Kurden ■ I N T E R V I E W
taz: Herr Schily, seit Inkrafttreten des Waffenstillstandes zwischen Iran und Irak setzt der Irak fast seine gesamten Streitkräfte ein, um einen Vernichtungsfeldzug gegen die Kurden im eigenen Land durchzuführen. Warum reagieren Ihrer Meinung nach weder die EG insgesamt noch die Bundesregierung alleine auf diesen Völkermord?
Otto Schily: Die internationale Öffentlichkeit hat die Verpflichtung, gegen den Rachefeldzug, den die irakische Armee gegenwärtig gegen die Kurden durchführt, sofort etwas zu unternehmen. Auch die Bundesregierung und die Europäische Gemeinschaft dürfen nicht untätig bleiben. Das Schweigen der Bundesregierung kann ich mir nur so erklären, daß sie sich von einer, wie immer gearteten Intervention keinen politischen Nutzen verspricht. Vielleicht meint die Bundesregierung sogar, sich besondere Zurückhaltung auferlegen zu müssen, damit die Aussichten, am Wiederaufbau im Irak zu verdienen, nicht geschmälert werden. Ich kenne jedoch die konkreten Erwägungen nicht und appelliere an die Bundesregierung, alles zu tun, damit die brutale Kurdenverfolgung gestoppt wird. Ich denke, die Bundesregierung sollte im UNO-Sicherheitsrat die Intitiative ergreifen und den Krieg gegen die Kurden auf die Tagesordnung setzen, um auf den Irak Druck auszuüben.
Vielleicht könnte man der Bundesregierung ja über das Parlament etwas nachhelfen.
Wir werden in der nächsten Sitzung des Auswärtigen Ausschusses das Thema sicherlich ansprechen. Unsere Fraktion wird voraussichtlich auch einen Antrag im Plenum des Deutschen Bundestages einbringen. Der Deutsche Bundestag sollte das irakische Vorgehen gegen die Kurden unmißverständlich verurteilen.
Ein Problem zur Zeit ist, daß die UNO keine Beobachter in das Gebiet entsendet, weil es keinen kurdischen Staat gibt, der eine UNO-Delegation anfordern könnte. Könnte man diese Prozedur nicht beschleunigen, indem man zuerst einmal durch die EG oder die Bundesregierung eine eigene Delegation vor Ort schickt?
Es gäbe gewiß die Möglichkeit, eine EG-Delegation zu entsenden. Nach meiner Auffassung sollte die Bundesregierung aber zugleich bei den Vereinten Nationen darauf drängen, daß von dort aus eine Beobachtergruppe in das Krisengebiet reist.
Selbst wenn die UNO sich demnächst der Kurden annimmt, gibt es bereits jetzt über 120.000 Flüchtlinge, die unter erbärmlichen Bedingungen in der Türkei festsitzen. Was sollte passieren, um diesen Flüchtlingen zu helfen?
Die Bundesrepublik ist ein reiches Land und kann Mittel bereitstellen, um der wesentlich ärmeren Türkei die Versorgung der Flüchtlinge zu erleichtern. Wir müssen anerkennen, daß sich die Türkei sehr human und vernünftig verhalten hat, weil sie entgegen manchen Befürchtungen die Kurden vorläufig aufgenommen hat.
Trotzdem ist ja bekannt, daß die türkische Regierung darauf hofft, zumindest einen größeren Teil der Flüchtlinge auch wieder loszuwerden. Warum bietet Bonn nicht wenigstens an, ein bestimmtes Kontingent der Flüchtlinge zu übernehmen?
Das wäre eine denkbare Hilfsmaßnahme, aber an sich wäre es besser, wenn die Flüchtlinge in der ihnen vertrauten Umgebung bleiben könnten. Unsere eigentliche Aufgabe ist es deshalb, uns um eine dauerhafte Lösung des Kurdenproblems zu bemühen. Wenn kurdische Nationalisten versuchen, sich mit Waffengewalt einen eigenen Staat zu erkämpfen, wird das die Repression gegenüber den Kurden nur verschärfen. Es muß aber den Kurden ermöglicht werden, über die Staatsgrenzen des Irak, des Iran, der Türkei und Syrien hinweg ihren ethnischen und kulturellen Zusammenhang zu wahren und zu entwickeln. Die geeignete Form dafür wäre ein international garantierter Autonomiestatus. Von der UNO sollte eine Kommission eingesetzt werden, in der ein solcher Autonomiestatus unter Beteiligung der Türkei, des Iran, des Iraks und Syrien sowie Vertretern des kurdischen Volkes erarbeitet wird.
Wer sollte die angesprochenen Staaten zu einem solchen Schritt bewegen? Seit Jahrzehnten mußten gerade die Kurden immer wieder die Erfahrung machen, daß sie international keine Lobby haben.
Sicher. Aber wenn wir unsere Politik so verstehen, daß sie sich nicht nur an unsere eigenen ökonomischen Interessen anlehnt, sondern als eine Menschheitsaufgabe auch der Durchsetzung von mehr Humanität dienen soll, dann müßte sich gerade die UNO verstärkt um das Schicksal „staatenloser“ Völker kümmern.
Das Interview führte Jürgen Gottschlich
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