: Ein palästinensischer Staat - in Föderation mit Israel?
Vor weniger als einem Jahr noch hätte sie kaum jemand für möglich gehalten: die bevorstehende Gründung eines palästinensischen Verwaltungs- und Rechtssystems. Neben einer Exilregierung soll es vor allem eine (wahrscheinlich aus dem Untergrund geleitete) politische und ökonomische Infrastruktur in den besetzten Gebieten selbst geben. Ein demokratisches, säkulares und föderatives Palästina soll entstehen. Doch Föderation mit wem? Mit Jordanien, wie Teile der israelischen Regierung, die USA und auch die EG es sich wünschen? Im Hauptquartier der PLO in Tunis wird in diesen Tagen ein anderes Szenario entworfen: das ungeteilte Jerusalem als Hauptstadt einer palästinensisch -israelischen Föderation. Danach gäbe es zwei separate Verwaltungen für den israelischen (oder jüdischen) und den palästinensischen Teilstaat sowie - vielleicht - einen gemeinsamen obersten Repräsentanten. Träume?
Gestützt auf die Ausdauer der jungen Palästinenser („Generation der Steine“), hat die PLO-Führung eine Kampagne für einen Palästinenserstaat begonnen. Acht Monate nach Beginn des Aufstands in den besetzten Gebieten, der Intifada, und kurz nachdem der jordanische König Hussein formal auf die Westbank verzichtet hatte, traf sich Mitte August das Exekutivkomitee der PLO in Tunis und beschloß die Einsetzung einer Verfassungs- und einer Politik-Kommission. Deren Arbeit soll in den nächsten zwei Wochen abgeschlossen sein. Dann wird im Oktober der Palästinensische Nationalrat in Tunis tagen und wahrscheinlich eine Übergangsregierung bilden. Keine simple Exilregierung, sondern eine provisorische Staatsführung, die sich auf legislative und exekutive Organe im Land selbst und im Exil stützt. Einer der acht von Israel vor zwei Wochen ausgewiesenen angeblichen Führer der Intifada, Samir Saihat, erklärte in Algier, die während der Intifada gegründeten Volkskomitees in den besetzten Gebieten könnten schon jetzt die Funktion einer Gemeindeverwaltung übernehmen und hätten in vielen Orten schon die Macht der Besatzungsbehörden unterlaufen.
Auch die Linken in der PLO tragen die Ausrufung einer Regierung mit. Für George Habash von der Volksfront ist sie die notwendige Konsequenz aus dem Widerstandskampf vor allem in den besetzten Gebieten. Die Besatzung müsse abgeschüttelt werden, allerdings ohne daß die PLO zugleich die Existenz des Staates Israel anerkenne, erklärte er.
Andererseits muß eine palästinensische Unabhängigkeitserklärung, die sich auf die Nationalstaatsidee beruft, auch die Festlegung der Staatsgrenzen beinhalten. Mit den eigenen Grenzen definiert ein Staat aber zugleich seine Nachbarn, hier also auch Israel. Ein ungelöster Widerspruch, mit dem die linken Parteien in der PLO leben müssen, seit sie sich in den siebziger Jahren auf die Teilstaatslösung eingelassen haben. Nach diesem Konzept sollte jedes vom Zionismus befreite Stück des historischen Palästina benutzt werden, um einen eigenständigen Staat zu errichten.
Für den zweiten Mann in der PLO, Abu Iyad, ist das kein so großes Problem. In der französischen Zeitschrift 'Journal du Dimanche‘ erklärte er Ende August, die PLO werde mit der Unabhängigkeitserklärung einen Staat in den Grenzen des UNO -Teilungsplans von 1947 vorschlagen, Israel anerkennen und dann die endgültigen Grenzen in direkten Verhandlungen festlegen. Sofern Israel seinerseits die PLO anerkennt. Eine solche Unabhängigkeitserklärung würde von der bisherigen National-Charta der PLO in wesentlichen Elementen abweichen. Dort wird die Befreiung ganz Palästinas und der einheitlich arabische Charakter des zukünftigen Staates zum höchsten Ziel der Bewegung erklärt. Eine palästinensische Regierung wäre nicht mit der heutigen PLO-Führung identisch, auch wenn man sich Arafat als Staatspräsidenten vorstellen kann. Denn die Intifada hat eine eigenständige Führung in den besetzten Gebieten hervorgebracht, die sich zwar weitgehend an der PLO orientiert, aber durchaus nicht nur das unterste Glied einer Befehlskette spielt. Fundamentalistisch-muslimische Gruppen vor allem in Gaza lehnen das Teilstaatskonzept der PLO sogar rundweg ab. Sie wollen einen geeinten, muslimischen Nahen Osten - ohne Staatsgrenzen, Könige und Generäle.
Doch gefährlicher könnten dem Plan Arafats eher die vom syrischen Regime abhängigen Gruppen werden: Die Volksfront/Generalkommando und die Fatah-Dissidenten unter dem Oberst Abu Mussa haben wiederholt in blutiger Weise demonstriert, daß sie den Kompromiß-Kurs der PLO-Führung bekämpfen werden. Vor zwei Monaten zerstörten sie die Reste der Beiruter Palästinenser-Lager Shatila und Bourj al -Barajneh, die bis dahin von Arafat-loyalen Einheiten gehalten wurden. Und das Gemetzel kann sich in naher Zukunft fortsetzen: Für den Moment der Bildung einer PLO-Regierung haben die Syrien-hörigen Truppen den Angriff auf die von der Fatah und der PFLP geleiteten Lager im Süden des Libanon angekündigt. Für die syrischen Generäle ist nämlich eine selbstbestimmte palästinensische Führung sowohl im Libanon wie in einem autonomen Staat ein unerträgliches Hindernis auf ihrem Weg zu einer Großmacht des Nahen Ostens. Mit der zweiten Großmacht in der Region, Israel, kann sich Präsident Assad dagegen durchaus verständigen, wie sein Stillhalten bei den israelischen Interventionen im Libanon und seine Gesprächsbereitschaft gegenüber den US-amerikanischen Friedensmissionären gezeigt haben.
Über die conditio sine qua non für einen palästinensischen Staat - die Bereitschaft Israels, eine solche Lösung in irgendeiner Form zu akzeptieren - entscheidet nicht nur die Ausdauer und Opferbereitschaft der Palästinenser selbst. Die Intifada hat der gesamten israelischen Gesellschaft und auch wichtigen Freunden Israels im Ausland, wie den amerikanischen Juden, eindringlich gezeigt, daß weder die andauernde militärische Aggression noch die Integration der unterworfenen Palästinenser als drittklassige „Quasi-Bürger“ in den jüdischen Staat zu einer „Befriedung“ führt. Die Israelis kommen um eine Entscheidung nicht mehr herum: Entweder sie machen weiter mit der zunehmend brutalen und rassistisch geprägten Unterwerfung der Palästinenser durch einen Militärstaat, der auch nach innen, gegenüber der jüdischen Bevölkerung aggressiver wird. Oder sie beginnen einen Lernprozeß in Richtung auf eine demokratische Gesellschaft gemeinsam mit den Palästinensern.
Thomas Reuter
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