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Japan erstarrt vor dem sterbenden Kaiser

Nippon im Zeichen der kaiserlichen Notstandsmaßnahmen / Über den Gesundheitszustand des Tenno schweigen die Medien / Feste werden abgesagt / Politiker bleiben im Land / Die Sportler in Seoul rechnen mit einer schnellen Abreise  ■  Aus Tokio Gorg Blume

Die letzte große Kaisergeschichte des Jahrhunderts spielt dieser Tage im fernen Nippon. „Der Tenno stirbt bald“, erzählen die Japaner heute überall im Land.

Wie bei jeder Kaisergeschichte liefert man dem Volk nur die einfachste Version. „Die kaiserliche Hoheit befindet sich noch immer in einem kritischen Zustand“, titelt das Tokioter Massenblatt 'Asahi‘ am Sonntag. Die Fernsehprogramme, ob staatlich oder privat, bringen fast zu jeder Stunde tags und nachts Sondersendungungen mit den neuesten Tenno -Nachrichten. Am Freitag wußte man: Der Tenno hat Eiswürfel geschluckt. Am Sonnabend wußte man: Der Tenno hat sich rasiert. Gestern wußte man nur: Der Tenno hat hohen Blutdruck. Zuvor wußte jemand zuviel: 'Asahi‘ schrieb in ihrer Wochenendausgabe, der Kaiser habe Krebs. Doch das Kaiserhaus protestierte nach dieser Meldung. Nun spricht niemand, keine Zeitung, keine Fernsehanstalt mehr davon.

Die Geschichte läuft wie geplant. Seit langer Zeit waren alle Mächtigen im Land, Unternehmer, Politiker und Medienchefs, auf diese Entwicklung vorbereitet. Kaiser „Tenno“ Hirohito, Asiens größter Kriegsverbrecher, in dessen Namen das faschistische Japan seine Eroberungskriege und Völkermord-vergleichbaren Feldzüge führte, der Kaiser, den sein Volk bis 1945 als Gott verehren sollte, dieser Hirohito, dem die US-amerikanische Besatzungsmacht zur Wahrung japanischer Tradition und aus Angst vor Japans Kommunisten die kaiserliche Würde ließ, auch er muß eines Tages sterben. Jahrelang hatte man versucht, den schlechten Gesundheitszustand des Tenno zu verheimlichen. Der Tod des Kaisers galt als Tabu. Heute, da er 87jährig ganz offenbar unheilbar erkrankt ist, zögern die Mächtigen nicht mehr, den kaiserlichen Notstand auszurufen.

Die Gleichschaltung der Medien ist nur eine von vielen bereits unternommenen oder noch geplanten Notstandsmaßnahmen. Kaufhausketten haben ihren Ausverkauf abgesagt, Gemeinde- und Stadtfeste im Land wurden abgeblasen, die Veranstalter nahmen dabei klaglos Millionenverluste in Kauf. In den Schulen befahlen die Direktoren bei den zu dieser Jahreszeit traditionellen Sportveranstaltungen, nur noch die japanische Flagge und nicht mehr wie bisher üblich internationale Flaggen zu hissen. Selbstverständlich ist nun, daß kein bedeutender Politiker Tokio verläßt. Außenminister Uno sagte kurzfristig seine Gespräche mit US-Präsident Reagan und dem sowjetischen Außenminister Schewardnadse bei der UN-Vollversammlung in New York ab. Schon hat man den Vorsitzenden des japanischen Olympia-Teams aus Seoul nach Tokio zurückgerufen. Im Fall von Hirohitos Tod müßten offiziell Nippons Sportler allesamt freiwilig die Rückreise antreten - denn nichts, keine Verfassung, kein Gesetz schreibt die kaiserlichen Notstandsmaßnahmen vor. Japans derzeit bester Sumo -Ringkämpfer Chiyonofuyi stand der Nation Vorbild, als er gestern nach einem großen Turniersieg alle Siegesfeiern absagte: „Ich konnte in der Nacht nicht schlafen, weil im Fernsehen berichtet wurde, daß der Tenno Blut gespuckt hatte. Ich bin nicht in der Stimmung zum feiern.“ Chiyonofuyi demonstrierte nur, worin Japaner Meister sind: Grenzenlose Selbstdisziplin. Das Tenno-System hat sie seit jeher verlangt. Sie zu bewahren, darum geht es den Mächtigen beim Tod des Kaisers. Soweit besteht keine Gefahr. Nach wie vor scheinen die meisten Japaner bereit, ihrem Kaiser bis in seinen Tod die Treue zu schwören. Vor dem Kaiserpalast in Tokio stehen seit vier Tagen Zigtausende im Regen Schlange, um mit ihrer Unterschrift in ein kaiserliches Buch dem Tenno eine gute Heilung zu wünschen. Nicht nur alte Leute, auch viele junge Japaner haben die Mühen dieses kaiserlichen Pilgerweges nicht gescheut. „Er ist halt doch eine große Existenz“, sagt Takashi, ein Tokioter Student, und seine Freunde pflichten ihm bei: „Immerhin ist er das Symbol unseres Staates.“ So steht es in der Tat in der japanischen Verfassung geschrieben. Nur vermochte bisher kein Verfassungsrechtler Sinn oder Unsinn der Formulierung zu erklären. Dies schien solange überflüssig, weil die Verfassungswirklichkeit des Tenno-Paragraphen nicht zur Debatte stand. Der Tenno lebte - für einige als vergessenes Überbleibsel einer vergangenen Zeit, für andere schlicht und einfach als Gott. Heute stellt sich für die Japaner wieder die Tenno-Frage. Nippons Unternehmer und Regierende sind sich mit dem Bürgermeister von Osaka einig, der erklären ließ: „Alle haben tiefe Erinnerungen an die Zeit unseres Kaisers. Wer jetzt Feiern begeht, ignoriert das Gefühl des Volkes.“ Kaisergeschichten waren immer gut genug, um das Volk zu belügen.

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