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A N D R E J B E L Y

■ K O N T R A S T M E T H O D E

Berlin ist ein organisierter, systematisch realisierter Alptraum, dargeboten in der unschuldigen Form des normalen, gesunden (bourgeoisen) Menschenverstands: Sinn wird Widersinn.

Es gibt keine Widersinnigkeit, die den Durchschnittsdeutschen von heute überraschen könnte; auf dem Kurfürstendamm habe ich mich später oft gefragt: 'Was müßte ich tun, um zu überraschen?‘ Und ich mußte mir eingestehen der Berliner ist durch nichts zu überraschen: sagen wir, ich hätte Kopfstand gemacht; die Passanten hätten meinen Kopfstand nur nebenher registriert; ohne stehenzubleiben, ohne sich umzudrehen wären sie weitergeeilt und hätten flüchtig erwogen: 'Wahrscheinlich eine Reklame‘. Oder sagen wir, ich hätte plötzlich laut verkündet: 'Ich glaube an die graue Katze'; niemand hätte sich gewundert, höchstens gedacht: 'Eine neue Sekte: vielleicht Dadaist.‘ Hätte ich mich der Länge lang auf das überfüllte Trottoir gelegt: 'Ein Betrunkener.‘ Ein Polizist wäre gekommen: man hätte mich in ein 'Auto‘ gesetzt, meine Adresse festgestellt (im Ausweis) und gelassen an meinen Bestimmungsort gebracht, dem Portier übergeben, der Portier hätte mich der Wirtin weitergereicht, und ich hätte mich in meinem weichen Bett wiedergefunden; die Wirtin mit feinem Lächeln: 'Getrunken - macht nichts.‘

Je mehr ich darüber nachdachte, womit ich den Berliner überraschen konnte, desto deutlicher begriff ich: alle Verrücktheiten werden übertroffen von dem 'nüchternen‘ Alltagsberlin; dem 'nüchternen‘ Leben muß man nach der Berliner Kontrastmethode eben nur den umgekehrten Sinn geben: um zu verstehen - da herrscht Betrunkenheit.

In diesem Leben begegnen sich im bourgeoisen Berlin der Russe und der Deutsche des Bezirks Charlottengrad - in einem russisch-deutschen Cafe oder einer 'Diele‘, wo die Deutschen Wodka trinken oder den scharfen Likör Natascha, wo russische Offiziere bedienen und nachts natürlich Vereinbarungen getroffen werden zwischen dem Emigrantenrußland und Deutschland über die gegenseitige Unterstützung auf dem sehr gefährlichen Nachhauseweg, denn die Russen wie die Deutschen sind gleichermaßen beunruhigt durch den großen Kopernikus, der den Russen wie den Deutschen in einem Nachtexperiment gleich jetzt die Drehung der Erde unter den Füßen demonstrieren wird.

Ein Bekannter erzählte mir: 'Ich habe mich viele Male in einem kleinen Nachtlokal bis zur Besinnungslosigkeit betrunken, und obwohl ich dort allein war, bin ich immer in meinem Bett zu mir gekommen.‘ Und gleich stimmte er begeistert das Lob auf die Berliner Kultur an, die das Geheimnis des fliegenden Teppichs gelöst hat ‘... ja, es ist schön in diesem wundervollen Berlin‘, schloß er seinen Lobgesang.

Der russische Dichter Andrej Bely lebte Anfang der zwanziger Jahre in Berlin, der damals größten russischen Stadt außerhalb Rußlands. Seine 'Eloge‘ ist dem Berlinbuch Belys entnommen ('Eine Wohnung im Schattenreich‘), das erstmals 1924 in Leningrad erschien. Übersetzung von

Fritz Mierau.

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