: Ereignisraum Balkon
■ Berlins beliebtester Wohnraum
Unliebsame Potentaten wurden an diesem Ort schon kaltgestellt, Bier kistenweise, urbi et orbi wird von dort aus gesegnet, der Botanik gehuldigt und Gorbi. - Wo?
„Na, nu rat mal! - Noch keen Schimmer? Jeht dir noch keen Talchlicht uff? Na, wo setzte dir denn immer Abends, wenn du ausruhst, ruff? Siehstewohl! Balkon: Balkonien! Mensch, da kannste knorke wohnen!„
Susann Hellemann und Lothar Binger sind der Kultur und Geschichte dieses Ortes Von Balkon zu Balkon (Buch- und Ausstellungstitel) gefolgt. Folgen wir ihnen.
Bis Hermann Kügler in seinem 1941 veröffentlichten Gedicht dem Urloob in Balkonien lyrisch das Wort redete, hatte der Balkon schon ein gutes Stück kulturhistorischen Weges hinter sich, ja, war längst zur Berliner Institution geworden.
Mit „knorke wohnien uff Balkonien“ hatten die Anfänge dieser Kultur allerdings nichts zu tun. Als die ersten beiden Balkone vom Architekten Caspar Theiß am Berliner Kurfürstlichen Schloß während der Regentschaft von Joachim II angebracht wurden, dienten sie mitnichten dem Kurzweil und Erholung spendenden Aufenthalt des Gesalbten. Schiere Zierart waren sie, und das blieben sie, vom Adel und Bürgertum vielfältig kopiert bis in die Zeit des Biedermeier. Da erst vollzog sich der Wandel vom Ornamentalen zum Funktionalen. Für die dem Biedermeier eigene Kultivierung häuslicher Zurückgezogenheit, Innerlichkeit, Idylle und Leisetreterei war der Balkon geradezu der verdingliche geistige Standort: von außen uneinsehbar, doch die verstohlene Betrachtung aus sicherer Distanz ermöglichend. Die der Zeit ebenso eigene romantische Natursehnsucht führte schließlich auch zu den zaghaften Anfängen, den zunehmend als Wohnraum erlebten Balkon zu begrünen.
Nach 1895 gehörte der Balkon nicht mehr nur zur wünschenswerten Wohnungsausstattung, er wurde geradezu Standard. 600.000 der 1,1 Millionen Berliner Wohnungen - Tür auf, und man ist im „Jrünen“, steht „inne Botanik“. Die Lieblingspflanze der Berliner Balkonbotanik ist seit der Jahrhundertwende die feuerrote Pelargonie, bekannt fälschlicherweise unter dem Namen Geranie.
Übrigens, wer meint, mit seinen balkonisch kultivierten Salatkräutern oder Cannabis-Pflanzen Avantgardist zu sein weit gefehlt. Die Berliner entdeckten den „Nützlichkeitsbalkon“ unmittelbar nach der Jahrhundertwende und pflanzten schon damals statt wildem richtigen Wein, statt schön anzusehender Feuerbohnen die eßbaren Brechbohnen.
Folgen wir Susan Hellemann und Lothar Binger noch auf einen weiteren Balkon - den politischen. Als 1918 ein ziemlich prominenter Berliner „uff Urloob“ geschickt wurde, war auch dieses Ereignis - wie überhaupt die deutsche Geschichte nach 1848 - eng mit der Berliner Balkonkultur verbunden. So proklamierte am 9.November 1918 der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann die Republik vom Balkon des Reichstagsgebäudes. Nur einige Balkone weiter, vom Portal IV des Berliner Stadtschlosses, tat Karl Liebknecht ein Gleiches.
Und auch das Nachkriegs-Deutschland kennt den politischen Balkon. Zur Trauerfeier anläßlich des Todes von Ernst Reuter versammelten sich Tausende vor dem Balkon des Schöneberger Rathauses, ebenso 1963 beim Besuch von John F. Kennedy.
Auch als 20 Jahre später wieder einmal ein Präsident der USA der Stadt seine Aufwartung machte, kam es in bester Berliner Tradition vom Balkon politisch. Diesmal allerdings zum Weh der Obrigkeit, die den Staatsgast durch die balkonösen Äußerungen („R. ist ein A.“) besudelt sah. Die Kulturgeschichte des Berliner Balkons ist seither um den Begriff „Lappenkrieg“ reicher, denn die Staatsmacht kam seinerzeit höchstpersönlich zum politischen Reinemachen auf die privaten Balkone. Ob da der Innensenator bei Hermann Kügler noch gelesen hat?
“...ne Reise nach Balkonien duht in jede Hinsicht lohnien.“
H.&H.
Buch: Susan Hellemann/Lothar Binger: Von Balkon zu Balkon. Berliner Balkongeschichte(n). Berlin 1988, Nishen -Verlag. Ausstellung: Galerie im Körnerpark, Schierker Str. 8, 1/44, 2.10. bis 6.11., täglich geöffnet außer Mo von 11 bis 18 Uhr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen