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Wie fragil Theater ist

■ In Berlin fand letzte Woche eine Werkschau des Moskauer Theaterregisseurs Anatolij Wassiljew und seiner „Schule der dramatischen Kunst“ statt / Marie-Luise Bott, die seine Inszenierungen zum Teil schon aus Moskau kannte, hat für uns ein Porträt Wassiljews geschrieben

Seit ihn vor einem Jahr seine erste Auslandstournee mit Viktor Slawkins Zeitstück Cerceau vom „Theater der Welt“ in Stuttgart zum Holland-Festival und über London nach Jugoslawien führte, ist Anatolij Wassiljew auch bei uns kein Unbekannter mehr. In diesem Jahr feierten er und seine Truppe mit Pirandellos „Sechs Personen suchen einen Autor“ in Avignon, Wien und Mailand Triumphe. In Moskau kennt man Anatolij Wassiljew natürlich nicht erst seit der neuen kulturpolitischen Öffnung unter Gorbatschow. Der studierte Chemiker aus Rostow am Don hatte bei Andrej Popow und Maria Knebel an der Staatlichen Hochschule für Theaterkunst (GITIS) Regie gelernt, ab 1973 am Moskauer Künstlertheater gearbeitet und 1978/79 dann mit Gorkijs Wassa Schelesnowa (in der radikalen ersten Fassung) und Slawkins Erwachsene Tochter eines jungen Mannes am intimen kleinen Stanislawskij-Theater einen derartig durchschlagenden Erfolg, daß „ungefähr ein halbes Jahr draufging, damit fertig zu werden“. 1982 zog Wassiljew zusammen mit seinen Schauspielern zu Ljubimow ans Taganka -Theater und brachte hier nach mühevollem dreijährigem Proben Slawkins neues Stück Cerceau über die Generation der 40jährigen heraus - ein legendäres Theaterereignis. Es folgten schwierige Zeiten. Ein Jahr lang (1986) durfte Cerceau nicht gespielt werden. 1987 endlich kommt vom Kultusministerium die Bewilligung eines eigenen, selbstverwalteten Theaters. Bis das ehmalige Kino „Uran“ umgebaut ist, bezieht Wassiljew „provisorisch“ einen Kellerraum in der Innenstadt. Die Stadt zahlt Subventionen. Mit Pirandellos „Sechs Personen“, gespielt von Absolventen seiner Regie- und Schauspielklasse an der GITIS, eröffnet Wassijew im Februar 1987 die „Schule der dramatischen Kunst.“

„Schule“ deshalb, weil ein ständiges Von-vorne-Beginnen mit zum Programm gehört. Die Idee eines „handwerklichen Meisterbetriebes“, der gemeinschaftlich „Einzelstücke“ anfertigt, greift auch in die Organisationsform des Theaters über: Die Schauspieler, mit denen Wassiljew zum Teil schon über zehn Jahre lang zusammenarbeitet, haben jeweils nur Stückverträge. Wassiljew setzt auf dieses „Provisorium“: Es garantiere „eine ständige Beziehung... Befreit man sich von der Abhängigkeit vom sogenannten 'sicheren‘ Arbeitsplatz, wird man sich der Arbeit ganz anders hingeben“. Und diese Hingabe braucht sein „psychologisches Theater“. Inzwischen ist die „Schule“, wie ich mich selbst überzeugen konnte, zu einem Treffpunkt und Festplatz vor allem für die jungen Moskauer Künstler geworden. Die „Cerceau„-Inszenierung

Und nun also ein Wiedersehen in Berlin, mit Cerceau und Pirandello in der Theatermanufaktur am Halleschen Ufer. Ich sah hier die zweite Aufführung von Cerceau. Selten deutlich wurde da, wie fragil Theater ist, wie sehr es von der Gunst des Augenblicks lebt. Ein Jahr lang war dieses Stück nicht mehr gespielt worden. Im Mai war Jurij Grebenstschikow, diese aristokratisch-elegante Erscheinung, an den Folgen eines Unfalls gestorben. Seine Rolle des Wladimir Iwanowitsch übernahm W. Botschkarjew, der Wassiljew von früheren Arbeiten her vertraut war, doch eben nicht einfach „Ersatz“ sein kann, und der mit den anderen auch nicht jenen dreijährigen Probenprozeß durchlebt hat.

Plötzlich verlor diese sehr tschechowsche, großartig leichte, spielerische Studie über sieben vereinsamte Menschen ihre grundlegende dichte Atmosphäre, die sich in Stuttgart noch so unmittelbar übertragen und zu Szenenbeifall hingerissen hatte.

Ich bin 40, aber ich sehe noch jung aus, lautete ursprünglich der Titel von Viktor Slawkins Stück. Petuschok versammelt auf der von seiner Großmutter Lisa ererbten Datscha (die das beidseitig umspielte Bühnenbild von Igor Popow ausmacht) sechs nicht mehr junge Singles. Seine Idee ist, ein freies, aber reicheres Zusammenleben miteinander zu versuchen, aus den bis in die Kindheit zurückerinnerten ewigen Wohnungsnöten und Verletzungen auszubrechen und endlich Geborgenheit zu finden. Unruhig, unverbindlich werbend reden und tanzen sie. Doch was einst nahtlos zu einem großen emotionalen Spannungsbogen ineinander gefügt war, wirkte jetzt tatsächlich hastig, zerstreut und fast manieriert. Für einen Augenblick konzentriert der alte Koka, einst Lisas Geliebter, das Bild (II. Akt): Mit neuen Gesten, an festlicher Tafel, vor roten Pokalen liest man einander alte Liebesbriefe vor, die einzige Möglichkei, über die Gefühle füreinander zu sprechen. Die ungeheure Vitalität Aleksej Patrenkos (Koka) füllt die Szene spürbar mit Leben.

Doch wie ein Kartenhaus fällt alles zusammen: „So liebt man heute nicht mehr.“ Albert Filosows (Petuschok) Einwurf: „Aber vielleicht hat uns nicht der Zufall, sondern das Schicksal zusammengebracht?“, fiel einst in Stuttgart in eine intensive Stille. Hier versickert er ohne Echo. Auch Cerceau, das alte französische Reifspiel, bringt diese Figuren nicht mehr in Kontakt miteinander.

Dritter Akt: Fügt sich das Leben wirklich nicht mehr zu „Geschichte“? Gibt es nur „Stückwerk“? Sind alle nur noch „Varianten“, statt einmalig und unersetzlich sie selbst? Bindungsangst wird gefolgt vom stillen Grauen vereinzelter Lebensbeichten und weicht schließlich erneuter Unruhe vor dem Aufbruch zurück in die Stadt. Als Waljuscha (Ljudmila Poljakow) noch vom Wegrand her sagte: „Gerade dachte ich, ... jetzt wären wir so weit, alle zusammen in diesem Haus zu leben“, fragt man sich nicht mehr, ob die, die sich da trennen, nun vielleicht doch ein anderes Leben beginnen werden.

Wassiljew hatte mit dieser Inszenierung ästhetisch neue Maßstäbe gesetzt, die bisweilen von Andrej Tarkowskijs Filmkunst beeinflußt schienen: langsame Rhythmen (die Aufführung dauert über vier Stunden), zeitweiliges Einfrieren der Bilder, zeichenhaft eingesetztes Meeresrauschen, ein sich vors Bild ziehender schwarzer Flor und - als Gegengewicht - humoristisch-parodistische Musik und Tanz-Einlagen. Wenn jetzt in der Schlußszene aber ein blutroter Pokal von Hand zu geht, bekommt das Ganze plötzlich einen pseudo-sakralen Abendmahls-Charakter. Mit der stilisierten Christus-Analogie (den Kelch bis zur Neige leeren!) entsteht auch hier jener fatale Opfer-Gedanke, der in Tarkowskijs letztem Film so höchst erstaunliche Blüten trieb. Leichtigkeit und Humor, einst kennzeichnend für Wassiljews Regiearbeit, schienen wie weggewischt. Hat die Aufführung ihre Zeit gehabt, ist sie unwiederholbar? Im Theater ist noch jederzeit alles möglich. So war diese düstere Schwere vielleicht auch nicht Wassiljews letztes Wort. Kontrastmontage:

Wassiljews Filme

„Rohschnitte“, sagte Wassiljew im Arsenal-Kino zu den zwischen Dokumentar- und Spielfilm changierenden Arbeiten von Oleg Morosow und ihm selbst, schienen ihm interessanter als „unser Kinofilm, der zu glatt, zu vollendet, zu perfekt montiert ist!“ Tatsächlich vermittelten die noch unfertigen Arbeitskopien Es läuft nicht (1984)und Kaschtanka (1985) aus der Zeit der Probenkrise von „Cerceau“ sehr viel von den Geburtswehen einer neuen Spielweise, einer neuen Theaterform. Da ist Wassiljews tiefgefurchte Stirn und der skeptische Blick von unten herauf: „Such nicht in mir, finde in dir selbst! Gebt mir Atmosphäre! Der Zusammenhang existiert in der Emotion!“ Da ist der Alchemist, der will, daß die von ihm zusammengeführten Elemente eine natürliche Reaktion eingehen, der auf einer natürlichen seelisch-emotionalen Verbindung von Schauspieler und Rolle und Ensemblespiel beharrt. Da begreift man, was Wassiljew meint mit „das Stück 'von unten‘ schreiben“ oder „das im Gefühl wiedererwachte Gedächtnis“. Und absolut einleuchtend wird seine Formel: „Der Profi sagt: 'Weiter weiß ich noch nicht‘. Der Dilettant dagegen hält nicht inne und richtet auf jeden Fall irgendetwas an!“ Vor allem aber ist diese Kontrastmontage, der ausdrucksstarke Schwarz-Weiß und gelegentliche Stummfilm eine Schauspielerstudie. Er zeichnet all das Tasten und Suchen, die kleinen Schritte und die riskierten großen Bögen auf und legt jene Goldadern frei, aus denen der einzigartige Reichtum von Wassiljews Akteuren stammt. Eine sowjetische Rockoper

Am nächsten Abend zeigten Boris Juchananow (Regie) und der 28jährige Autor und Schauspieler Andrej Schipenko gemeinsam mit jungen Schauspielern und der Leningrader Rockgruppe Ober -Mannequins im Metropol Szenen aus Schipenkos Stück Der Beobachter. Wenn es auch seit einem halben Jahr in einer Wohnung, die zu Wassiljews Theater gehört, zu sehen ist, handelt es sich dabei doch noch um ein work in progress. Deshalb kann hier nur von einzelnen Eindrücken die Rede sein. Anfangs- und Schlußszene des Stückes erzählen die ewig junge Beziehungskiste, verflochten mit der Geschichte der sowjetischen Rock-Kultur. Rocklady Susy macht ihrem Musiker -Gespons Andrej Vorwürfe, daß er sich nicht mehr um sie und ihr Kind, sondern nur noch um die große Kunst kümmere. Die aber sei längst zur einträglichen kommerziellen Unterhaltungsmusik heruntergekommen. In Lied-Einlagen werden die letzten zehn Jahre Rock und Pop durchtwistet und -gesungen. Die zwischendurch ins Mikrofon geschrieene Simultan-Übersetzung geht meist unter. Schade. Denn neben Erzähl- und Performance-Szenen über die Freuden der Kommunalwohnung oder die Folgen der Umweltverseuchung gibt es auch den Versuch einer eigenen Standortbestimmung: „Was braucht ihr? Jeans? Anti-Kultur machen? Wogegen denn, wenn es keine Kultur gibt? Wir sind die Kinder aus dem Zwischenraum: Zwischen dem Zwischenraum zweier Zwischen, das ist die Formel unseres Seins.“

Zum guten Schluß - Andrej kehrt nach einem fantastischen USA-Trip zu Susy und seinen Freunden zurück - läuft es leider auf jene nostalgisch-sentimentale U-Musik heraus („Mary“), die anfangs angegriffen wurde. Und die Ober -Mannequins singen schwül vom „silbernen Staub des Kokains“ und den „klingenden Armreifen auf dem nackten Körper meiner Geliebten“. East meets West auf betrübliche Weise. Ist es Flucht ins baudelairesche „Spleen et Ideal“? Ist es Ratlosigkeit? - Irgendwo seitlich an der Wand steht Wassiljew und schaut zu. Später sagt er ernst und äußerst engagiert: „Ich versuche, ein kleines Stück Alltag in Schönheit umzuwandeln, all meine Kraft gebe ich darein. Ich möchte sie von diesem ganzen Negativ-Programm abbringen. Da steckt zuviel Aggressivität drin. Ich möchte ihnen etwas anderes geben...“ Seine Haltung besagt: beobachten, sie gewähren lassen, warten, im Gespräch bleiben. Die Pirandello-Inszenierung

Sieht man Wassiljews junge Pirandello-Truppe, so könnte man wirklich schwärmen: Es sind ausgeprägte Individualisten, Originale, mit einer ganz hervorragenden geschmeidigen Sprech- und Bewegungskunst.

Wassiljews Inszenierung von Sechs Personen suchen einen Autor stellt radikal jenen - in der Sowjetunion lange Zeit ideologisch geförderten! - Schein-Realismus in Frage, der Theater nicht als künstlerische Fiktion, sondern buchstäblich für „Wahrheit“ ausgeben will. Er tut es, indem er (im ersten Akt) Szenenabschnitte von immer neuen Schauspieler-Paaren wiederholen und fortführen läßt. Damit wird eine auf Identifikation und illusionäre Eins-zu-Eins -Übertragung ausgerichtete Zuschauerhaltung empfindlich gestört. Deutlich wird: Jede Person ist viele und kann die verschiedensten Masken tragen. Nur im leidenschaftlichen Ausagieren der Gefühle gewinnen die Personen (Vater und Stieftochter bei ihrer Begegnung im Bordell) vorübergehend eine einmalige, ungebrochene Identität.

Auch an dieser Inszenierung hat sich, seit ich sie im Dezember im Moskauer Kellertheater sah, einiges verändert. Da werden Textpassagen abwechselnd italienisch und russisch gesprochen. Sollte damit mehr Italien-Kolorit in die Aufführung geholt werden, so wirkt dieser Kunstgriff etwas prätentiös. Neu hinzuerfunden wurde die Figur des Bühnenarbeiters Tomasino, der eine Vorprägung einer der sechs Personen aus dem Stück sein könnte. In einem kleinen Vorspiel vor dem Theater stellt er sich dem Publikum vor, erzählt seine verworrene Familiengeschichte und kommentiert achselzuckend die Arbeit der Schauspieler: „Eine Unwahrheit, an die trotzdem geglaubt wird.“ Der Einspruch der Schauspieler gegen ihre groteske Kostümierung wird bis nah an die Klamotte outriert. Singt die Stieftochter zu ihrem aufreizenden Tanz von den „bedächtigen Chinesen“, so wackelt zur schieren Bebilderung ein zwergwüchsiger Mann im Chinesen-Kostüm herein, um schließlich selbst die Hüfte zu schwingen. In der Moskauer Bordell-Szene trug die Stieftochter einfach ein schwarzes Höschen. Das war vollkommen von der Rolle motiviert. Hier aber trägt sie aufwendige Reizunterwäsche. Warum? Weil man sich jetzt im reichen Westen zeigt? Wieso hatte Wassiljew sich zu solchen vom Kern der Aufführung wegführenden Dekorationen bewegen lassen? Der dritte Akt schließlich hatte seine ursprüngliche Konsistenz und Dynamik verloren. Er wirkte starr und zerdehnt.

All dies stimmte nachdenklich. Wie wirkt der plötzliche internationale Erfolg, wie der Supermarkt der internationalen Theaterfestivals auf einen Regisseur und seine Truppe aus Moskau? Entfernen sie ihn und seine Akteure von sich selbst, von der notwendigen Konzentration und Stille? Reißen sie ihn aus der belebenden Beziehung zum eigenen Publikum am eigenen Ort heraus und mit der Wurzel aus? Oder befinden sich Wassiljew und seine „Schule der dramatischen Kunst“ ganz unabhängig davon gerade in einer schwierigen Phase? - Um nicht mißverstanden zu werden: Erfahrungsaustausch ist ihnen (und uns) ganz unbedingt zu wünschen, am besten noch in Form von Studienreisen an die Shakespearestätten oder etwa nach Griechenland, fänden sich nur Mäzene dafür! Aber was kann sie davor schützen, sich von Aussichten auf Erfolg im Westen verführen und vom eigenen Weg abbringen zu lassen? Wassiljews Theaterexperiment ist noch immer das spannendste in der Moskauer Szene. Ihm und diesem fragilen Theater bleibt nur Glück zu wünschen!

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