: Kann Narzißmus Sünde sein?
■ Welturaufführung am Sonntag im Schlachthof: Der Performer Ron Litman mit seinem Stück „Asylum Revisited“
Der New Yorker Solo-Performer Ron Litman, 38, war mit seinem bisher nie gespielten Stück Asylum Revisited angetreten, den Bremern die weite Welt als Psychatrische Anstalt vorzuführen. Mit dem Tokkata von Bach eröffnete Litman bedeutungsvoll seine Show. Das Podium war stockdunkel und ein markerschütternder Schrei zerteilte die Finsternis. „Fritz, I've done it, Fritz“, kreischte da jemand mit unverwechselbarem deutschen Akzent und hielt sich eine Taschenlampe vors Gesicht. Bevor aber überhaupt darüber spekuliert werden konnte, welche Untat da so laut zugegeben wurde, hielt ein Herr im weißen Kittel mit grauer Lokkenperücke ein Sandwich in die Zuschauerreihen. Das war noch mal gutgegangen, nun ging es Schlag auf Schlag.
Ein Friedrich Lockenkopf, „my friends call me Freddy“, führte da durch ein psychatrisches Panoptikum mit Namen Welt. Moderierend und philisophierend geleitete er eine Reihe von Patienten durchs Programm, denen ein gemeinsames Merkmal nicht abzusprechen war. Sie waren stinknormal verrückt. Dies war der skurrile Seelendoktor sicherlich auch, doch war er sich der Sicherheit einer ganzen Wissenschaft im Rücken bewußt.
Mit populären Sentenzen aus dem Halbbildungssektor führte er durch ein Forschungsgebiet voller Mysterien. „Kann man Helmut Kohl verstehen, ohne sich eingehend mit dem Witz von Zirkusleuten zu befassen?“, fragte er
beiläufig um sogleich die Funktionsweise des Gehirns anschaulich in ähnlicher Weise zu erläutern. Vor drei Bildtafeln, auf denen unübersehbar DEPRESSION stand, war ein waschechter Yuppie das nächste Anschauungsobjekt ganz normalen Wahnsinns. Kann denn ein bißchen Narzißmus Sünde sein, fragte der obercoole Sonnenbrillenträger fast unschuldig, um im nächsten Moment seine anal-infantilen Obsessionen durch die Kesselhalle zu schleudern.
Auf die eine oder andere Weise trugen sie alle jene gewisse Kaputtheit zur Schau, die einen Herrn Goetz als New Yorker Amokschützen erst salonfähig machte. So auch Litmans Kellnerfigur, übrigens seiner eigenen Nebenbeschäftigung entlehnt, der den bornierten Freß-Bonzen und nimmersatten Ignoranten in einer Brüll-und Chaosorgie zu schlechter Letzt wild um sich schießend den wohlverdienten Rest gibt. Zum Schluß ist auch Jesus mit blutiger Dornenkrone und Lendenschurz auf der Couch des jüngsten Gerichts angelangt. Eine Zigarette rauchend beklagt er sein Elend. „Ich bin voll am Arsch“, sagt er immer wieder und schließt gleich die Frage nach seiner Mutter an. „Glauben Sie wirklich, mein Vater hat's mit einem Engel getrieben?“ Wir wissen es nicht genau. Aber wenn Ron aus Amerika noch ein wenig mehr Briketts nachschiebt, als die etwas kurzen 60 Minuten, dann wird Asylum Revisited ein Hit.
Jürgen Francke
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