: Schlimmer als lebenslänglich
Das Beispiel des Siegfried Schmidt - Wegen eines versuchten Einbruchs mit Waffe, Schaden rund 100 Mark, kommt er einfach nicht mehr aus dem Knast / 55 Jahre Sicherungsverwahrung: Die rund 250 Betroffenen in der BRD haben unter einem nur unbedeutend reformierten Nazigesetz zu leiden ■ Aus Hamburg Ute Scheub
„Sicherungsverwahrung kann eine schlimmere Strafe als die lebenslängliche Freiheitsstrafe sein“, sagt der Hamburger Rechtsanwalt Gerhard Strate. „Wenn jemand lebenslänglich hat, bekommt er normalerweise nach 15 Jahren eine echte Chance, rauszukommen. Wenn Sicherungsverwahrung gegen ihn angeordnet worden ist, unter Umständen überhaupt nicht mehr.“
Strate hat so einen Mandanten. Von einer kurzen Unterbrechung abgesehen, hockt er, nennen wir ihn Siegfried Schmidt, seit 21 Jahren in Haft. Seit anderthalb Jahren versucht Strate, wenigstens Vollzugslockerungen für ihn zu erreichen - vergeblich. Der Anstaltsleiter von „Santa Fu“, wo Schmidt gegenwärtig einsitzt, verweist auf die für ihn zuständige Strafvollstreckungskammer, die Kammer verweist auf die Anstaltsleitung, immer hin und her. In diesem Laufrad soll sich Siegfried Schmidt wohl wie ein Hamster totlaufen.
„Die Sicherungsverwahrung ist die problematischste Maßregel des Strafrechts“, so heißt es selbst in ganz normalen juristischen Kommentaren. Denn sie ist eine Strafe nicht für begangene, sondern für zukünftige Taten. Nach Absitzen der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe wird der Gefangene einfach weiterhin in Haft gehalten - zehn Jahre lang, wenn die Sicherungsverwahrung das erste Mal angeordnet wurde, unbefristet beim zweiten Mal.
Unbeschadet der Tatsache, daß Strafen für Nichtbegangenes eigentlich jedem rechtsstaatlichen Gedanken hohnlachen, hat der Gesetzgeber den Gerichten die anmaßende Kompetenz zugeschoben, darüber zu richten, ob einer ein „Gewohnheitsverbrecher“ ist und deswegen über seine Knastjahre hinaus in die Sicherungsverwahrung gesteckt gehört. Sie darf „dann verhängt werden, wenn der Angeklagte schon früher mindestens zweimal wegen vorsätzlicher Straftaten zu mindestens einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde. Und wenn „die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, daß er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, für die Allgemeinheit gefährlich ist“. Wobei hier noch anzufügen wäre, daß „schwerer wirtschaftlicher Schaden“ bereits bei Autodiebstählen und Schäden ab 4.000 Mark angenommen wird.
Unter den rund 45.000 Strafgefangenen in der BRD gibt es nach den letzten verfügbaren Zahlen aus der Strafverfolgungsstatistik 1987 242 Sicherungsverwahrte. Darunter übrigens nur eine Frau.
Schmidt, der in diesem Monat seinen 50.Geburtstag feiert, wuchs in der heutigen DDR auf. Als er 24 ist, klaut er zwei Radios, wird zu drei Monaten Knast verurteilt und flieht in den Westen. Völlig auf sich allein gestellt, kann er hier jedoch offenbar nicht Fuß fassen. Er fliegt aus einem Ledigenheim, weil er Damenbesuch empfangen hat, verrichtet tagsüber Gelegenheitsarbeiten und verbringt die Nächte mangels Obdach in Gaststätten und Parks. In dieser Situation finanzieller und sozialer Not ist der Weg zu Einbrüchen und Diebstählen nicht mehr weit. 1958 wird er deswegen zum ersten Mal, 1961 zum zweiten Mal und 1963 zum dritten Mal verurteilt.
In einer Januarnacht des Jahres 1967 bricht er in Hamburg in eine Imbißstube ein. Ein Polizist auf Streifengang ertappt ihn und läuft dem Flüchtenden hinterher. Schmidt lädt seine für 400 Mark erstandene Pistole durch und schießt insgesamt fünfmal. Bis heute bestreitet er vehement, daß er den Beamten treffen wollte. Doch das Gericht glaubte ihm damals nicht: Wegen versuchten schweren „Rückfalldiebstahls“ und versuchten Mordes verurteilt es ihn als „gefährlichen Gewohnheitsverbrecher“ zu zwölf Jahren Zuchthaus mit anschließender Sicherungsverwahrung.
Wegen seiner guten Führung im Knast kommt er zehn Jahre später zur Bewährung frei, auch der Vollzug der Sicherungsverwahrung wird ausgesetzt. Im August 1977, nach einem halben Jahr, schlägt er eine rund 100 Mark teure Fensterscheibe ein, um sich in einem Bürogebäude nach Wertsachen umzusehen, und löst dabei Alarm bei der Polizei aus. Als er vor anrückenden Polizisten zu fliehen versucht, steckt er seinen Trommelrevolver, ohne zu schießen, in ein Ventilationsrohr. Er wird verhaftet und wegen versuchten schweren Diebstahls zu dreieinhalb Jahren Knast mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Seitdem sitzt er in „Santa Fu“ und arbeitet dort als Drucker.
Siegfried Schmidt gilt als ruhiger und zurückhaltender Gefangener, dem Aggressivität oder gar Gewalttätigkeit fernliegt. Sein Werkmeister in der Anstaltsdruckerei ist voll des Lobes: Seine Arbeit verrichte er „mit sehr viel Fleiß und Sorgfalt. Seinen Mitarbeitern gibt er sich aufgeschlossen, freundlich und hilfsbereit...“ Die Vollzugsleitung vermerkt im Jahre 1982, „daß sein Verhalten
-vor allem in den letzten zwei Jahren - als vorbildlich bezeichnet werden konnte. Das gilt für seine Leistungen am Arbeitsplatz wie für seine Führung auf der Station“.
Gestützt auf diese positiven Beurteilungen, die sich in anderen Vermerken wiederholen, beantragt der Gefangene im Frühjahr 1985, in den offenen Vollzug verlegt zu werden.
Ein von der Strafvollstreckungskammer bestellter psychiatrischer Gutachter bestätigt ihm, er sei „keineswegs ein Schwerkrimineller, (...) sondern ein nach sozialer Aufgehobenheit und Einbindung strebender Proband, der vor Gewaltanwendung zurückschreckt“. Es bestünden „nicht die geringsten Bedenken“, Herrn Schmidt „vollzugliche Lockerungen in Form von Ausführungen, Ausgängen und Urlaub zu gewähren“. Und schließlich: „Der lenk- und leitbare Proband benötigt zweifellos Lenkung und Leitung, jedoch keine Verwahrung.“
Die Vollzugsleitung schließt sich diesem Vorschlag zur Vollzugslockerung an. Dennoch ordnet die Strafvollstreckungskammer im März 1987 an, die Sicherungsverwahrung habe fortzudauern. „Denn der Verurteilte ist aufgrund seiner abnormen Persönlichkeit für die Allgemeinheit gefährlich“, so beschließt sie mit selbstherrlich-autoritärem Unterton, obwohl sie selbst „in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen keine Delinquenz während der Vollzugslockerungen befürchtet“. Dem schließt sich nun auch die Anstaltsleitung an. Dem Gefangenen dürfen
-entgegen den gesetzlichen Möglichkeiten - keine Vollzugslockerungen gewährt werden, solange die Strafvollstreckungskammer kein Ende der Sicherungsverwahrung in Aussicht stelle.
Inzwischen ist diese Entscheidung der Anstaltsleitung schon zum dritten Mal gerichtlich für nichtig erklärt worden. Sie sei darauf hinzuweisen, schreibt Strate mit kaum noch verhohlenem Ärger, „daß bei der Entscheidung über Vollzugslockerung nicht die Grundsätze eines Ping-Pong -Spiels zu gelten haben“. Doch seinem Mandanten hat das bisher nicht viel genutzt - er bleibt Spielball der institutionalisierten Willkür.
„Lenkung und Leitung“, „straffe Angebundenheit“, „Hang zu erheblichen Straftaten“, „kriminelle Energie“ - Strate nennt diese durch viele Urteile und Beurteilungen vagabundierenden Begriffe die „Metaphysik der Juristen“. Es ist eine primitive Metaphysik, die in einem autoritären Menschenbild mit rassistischen Zügen wurzelt. Weil es nämlich unterstellt, ein Straftäter oder gar „Gewohnheitsverbrecher“ unterscheide sich durch feststehende Merkmale wie das einer irgendwo wabernden „kriminellen Energie“ von anderen Menschen. Die Nationalsozialisten haben es in dieser Hinsicht am weitesten gebracht: Sie prophezeiten kriminelle Taten anhand von Nasen- und Schädelformen und führten die so Klassifizierten ins KZ ab.
Auch die Sicherungsverwahrung war ihre Idee. Sie wurde im November 1933 durch das „Gewohnheitsverbrechergesetz“ eingeführt und galt bis zur ersten Strafrechtsreform 1970 unverändert. Die Reform bestand darin, die 15 Jahre Zuchthaus der Nazis durch zehn Jahre Knast zu ersetzen.
55 Jahre Sicherungsverwahrung - leider ist bislang niemand auf die Idee gekommen, dieses unrühmliche Jubiläum zum Anlaß zu nehmen, um öffentlich die Abschaffung dieses braungefleckten Gesetzes zu fordern.
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