: Die „Reichskristallnacht“ in Bremen
Der Verlauf des Judenpogroms in der Nacht vom 9. auf den 10. November / Zusammmengepferchte jüdische Männer auf dem Schulhof des Alten Gymnasiums / Fünf Jüdinnen und Juden von der SA kaltblütig ermordet ■ 1. Der Anlaß
Der 17jährige Jude Herschel Grünspan verübt am 7. November 1938 in Paris einen Mordanschlag auf den deutschen Botschaftssekretär Ernst vom Rath. Damit haben die Nationalsozialisten einen willkommenen Vorwand, „spontane“ antisemitische Ausschreitungen zu organisieren. 2. Die Feier
Zwei Tage später, am 9. November, feiert die NSDAP in München den Jahrestag des sogenannten Marsches auf die Feldherrnhalle von 1923. Reichspropagandaminister Dr. Goebbels teilt den anwesenden Parteiführern mit, daß es an einigen Orten judenfeindliche Kundgebungen gegeben habe, daß jüdische Geschäfte zerstört und Synagogen in Brand gesetzt worden seien. „Spontanen“ Folgeaktionen solle die Partei nicht entgegentreten. Die versammelten Parteigrößen, darunter auch der Bremer Bürgermeister und Führer der SA -Gruppe Nordsee, Heinrich Böhmcker, geben noch in dieser Nacht von München aus ihre Befehle an die heimatlichen Dienststellen: 3. Der Befehl
„Sämtliche jüdische Geschäfte sind sofort von SA-Männern in Uniform zu zerstören. Nach der Zerstörung hat eine SA-Wache aufzuziehen, die dafür zu sorgen hat, daß keinerlei Wertgegenstände entwendet werden können. Die Verwaltungsführer der SA stellen sämtliche Wertgegenstände einschließlich Geld sicher. Die Presse ist heranzuziehen.
Jüdische Synagogen sind sofort in Brand zu stecken, jüdische Symbole sind sicherzustellen. Die Feuerwehr darf nicht eingreifen. Es sind nur Wohnhäuser arischer Deutscher zu schützen. Jüdische anliegende Wohnhäuser sind auch von der Feuerwehr zu schützen, allerdings müssen die Juden raus, da Arier in den nächsten Tagen dort einziehen werden. Die Polizei darf nicht eingreifen.
Sämtliche Juden sind zu entwaffnen. Bei Widerstand sofort über den Haufen schießen. An den zerstörten jüdischen Ge
schäften, Synagogen usw. sind Schilder anzubringen mit etwa folgendem Text: 'Rache für Mord an vom Rath. Tod dem internationalen Judentum. Keine Verständigung mit den Völkern, die judenhörig sind. Dies kann erweitert werden auf die Freimaurerei.'“
4. Die Scherben
Nicht nur die oberen Parteiführer der NSDAP, sondern auch alle nachgeordneten Parteistellen halten an diesem Abend Feiern ab. Der Befehl aus München stößt auf große Resonanz. Eine „Judenaktion“, das schlägt ein. Gleich nach Mitternacht machen sich die Männer ans zerstörerische Werk: Die Schaufensterscheiben der jüdischen Geschäfte an Obern-, Söge -, Hutfilter-und Faulenstraße gehen unter Gegröle zu Bruch, jüdische Privatwohnungen werden verwüstet.
5. Das Feuer
Die Synagoge, 62 Jahre lang geistiger Mittelpunkt der Israelitischen Gemeinde Bremens, brennt völlig aus. Dem Hauswart, David Posner, der mit seiner Familie im Parterre des Gebäudes wohnt, läßt man keine Zeit, sein Hab und Gut vor den rücksichtslosen Brandstiftern zu retten, sein Sohn kann jedoch einige Gebetsrollen in Sicherheit bringen.
6. Die Feuerwehr
Die Bremer Feuerwehr verhält sich wie gewünscht: Sie sorgt für den Schutz der in diesem Altstadtgebiet, dem Schnoorviertel, dicht an dicht stehenden Häuser und läßt sehenden Auges das Gebäude in Flammen aufgehen.
7. Das Altersheim
Auch das jüdische Altersheim bleibt nicht verschont, In der Nähe wohnende SA-Leute schlagen mit vereinten Kräften Fensterscheiben und Spiegel ein, zerstören Möbel und stehlen Geräte. Unter wüsten Beschimpfungen treiben sie die alten Menschen auf die Straße, demütigen und mißhandeln sie.
8. „Die Judenliste“
Nachts um drei Uhr wecken SA'ler ihren Verwaltungsführer und
beordern ihn zur Dienststelle in die Kohlhökerstraße 61. Sie benötigen die „Judenliste“, auf der verzeichnet ist, wo die noch rund 900 Bremer Juden über das Stadtgebiet verstreut wohnen.
„Die Nacht der langen Messer“ bricht an. Nachdem die Geschäfte heimgesucht und die Synagoge abgebrannt ist, schwärmen die SA-Trupps aus, um auf „Judensuche“ zu gehen. Sie holen Männer und Frauen aus dem Schlaf und schaffen sie zu einer Sammelstelle am Schulhof des Alten Gymnasiums, wenige Schritte von der abgebrannten Synagoge entfernt. Während die Jüdinnen schon bald wieder nach Hause geschickt werden, müssen mehr als 160 Männer bis zum Morgen der Dinge harren. (Am nächsten Morgen müssen sie quer durch die Stadt ins Zuchthaus nach Oslebshausen marschieren, von dort geht der Transport ohne Wiedersehen mit der Familie ins Konzentrationslager Sachsenhausen.)
9. Die Morde
Trauriger Höhepunkt der Ausschreitungen in Bremen sind fünf Morde: In der Neustadt sterben der Produktenhändler Heinrich Rosenblum und die Fahrradhändlerin Selma Zwienicki. In Burgdamm der Sanitätsrat Dr. Adolf Goldberg und seine Frau Martha. Und in der Gemeinde Platjenwerbe der Monteur Leopold Sinasohn. Der Bremer Jude Emil Ostro entgeht nach Aussagen seines Neffen nur knapp dem Tod, als in dieser Nacht SA -Leute seinen Kopf im Stadtgraben mehrfach unter Wasser drücken. Im ganzen Reich werden in dieser Nacht 91 JüdInnen nachweislich ermordet. Doch während in nahezu allen Fällen die aufgehetzten SA-Leute zum Teil entgegen ausdrücklichem Befehl in dieser Nacht eine tödliche Hatz auf Juden veranstalten, verhält es sich in Bremen anders: Mißverständnisse in der Befehlskette machen aus den SA -Tätern vorsätzliche
Mörder. Bis in die frühen Morgenstunden glaubt man in der hiesigen Untergruppe der SA-Gruppe Nordsee, man müsse Juden „vernichten“.
Ein Beispiel: Der SA-Sturmhauptführer und Bürgermeister von Lesum, Köster, wird gegen 3.30 Uhr geweckt. Es entwickelt sich folgendes Gespräch: „Hier Standarte 411. Am Telefon Truppführer S. Haben Sie schon Befehl?“ K.: „Nein.“ S.: „Großalarm der SA in ganz Deutschland. Vergeltungsmaßnahmen für den Tod von vom Rath. Wenn der Abend kommt, darf es keine Juden mehr in Deutschland geben.“ K. fragt überrascht: „Was soll denn tatsächlich mit den Juden geschehen?“ S: „Vernichten!“ K. begibt sich zu dem Haus von R. und informiert ihn. Die Tragweite des Befehls bewegt beide, sich diesen bestätigen zu lassen. R. ruft die Gruppe an, wo sich in Abwesenheit des Stabsführers der Sturmführer vom Dienst G. meldet. R.: „Ich habe hier so einen verrückten Befehl, hat das mit dem seine Richtigkeit?“ G.: „Jawohl, in Bremen ist schon die Nacht der langen Messer im Gange. Die Synagoge brennt bereits!“ R.: „Ist das amtlich?“ G.: „Das ist amtlich.“ K., der dem R. gegenübersitzt, will Klarheit und fragt unter Anspielung auf die Worte S.s: „Was heißt vernichten?“ R. wiederholt: „In Bremen ist bereits die Nacht der langen Messer im Gange. Ja, es ist so, wir müssen handeln“.
Die anschließenden Morde werden kaltblütig und brutal vollzogen. Das Haus von Leopold Sinasohn in Platjenwerbe wird umstellt. Dann werden die SA-Leute eingelassen und finden im oberen Stockwerk Sinasohn. Zunächst fällt ein Fehlschuß, und Sinasohn verkriecht sich in Todesangst in eine Zimmerecke. Derselbe 23jährige Schütze feuert drei weitere, diesmal tödliche Schüsse ab.
Die gleiche Brutalität spielt sich im Fall des Ehepaares Goldberg in Burgdamm ab. Nachdem die SA-Männer um 5 Uhr morgens das Ehepaar im Schlafzimmer finden, schießt einer ein 53 jähriger Schiffsingenieur - ohne weitere Worte auf den Arzt, der hilflos dasteht, streift nur sein Bein. „Da zeigt der alte Mann auf
sein Herz und fordert den Schützen auf, dorthin zu schießen. Der tut das, und Dr. Goldberg fällt tot zu Boden. Auch Frau Goldberg sagt noch: „Wenn Sie schon schießen, dann schießen Sie richtig!“, bevor Sie von der gleichen Hand wie ihr Mann getötet wird.“
In der Neustadt sind es zwei Brüder, damals 29 und 34 Jahre alt, beide Bäckermeister, die gegen 4 Uhr früh von ihrem Sturmführer den Befehl erhalten, Heinrich Rosenblum, wohnhaft Thedinghauser Str. 46, zu erschießen. Nachdem sie an das Schlafzimmerfenster geklopft haben, öffnet H. Rosenblum selbst die Tür. Um seinen Personalausweis zu holen, läßt er sie in das Zimmer treten, wo seine Jacke hängt. Er nimmt seinen Ausweis heraus und zeigt ihn vor. Als er ihn zurücksteckt, schießt einer der Männer aus nächster Nähe dem Arglosen in den Hinterkopf. Rosenblum ist sofort tot. Noch ehe die Familie - Frau und vier Kinder - erfaßt, was geschehen ist, sind die Täter davongestürmt. Die Frau eines bekannten Fahrradhändlers, Selma Zwienicki (Hohentorstraße 49/53), ist das fünfte Todesopfer. Ein SA -Sturmbann-Mann aus der Sedanstraße 73 vollstreckt die mörderische Order.
Zusammengestellt von Barbara Debus vor allem nach der Dissertation von Regina Bruss: „Die Bremer Juden unter dem Nationalsozialismus“ (Staatsarchiv)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen