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Flaschenpost ist angekommen

■ Ein Konzert mit Werken von Conlon Nancarrow in der Berliner Kongreßhalle

Thierry Chervel

Zwei Flügel stehen auf der Bühne, links ein schwarzglänzender Konzertflügel von Steinway & Sons, rechts ein etwas kleinerer furnierter Flügel von Bösendorfer. Er sieht ein bißchen anders aus als gewöhnliche Flügel. Unter der Zarge hat er eine flache Schublade, die über seine ganze Breite geht. Ein Kabel hängt heraus, das in eine Mehrfachsteckdose führt. Ein großer steifer Mann kommt auf die Bühne und verbeugt sich vorm Publikum. In der Hand hält er eine unscheinbare Papierrolle, die er in die dafür vorgesehene Mulde der Schublade einlegt. Er betätigt einen Schalter und geht schnell ab. Die Saalbeleuchtung geht aus. Licht fällt nur noch auf den einsamen Bösendorfer. Schon hört man das Surren eines Elektromotors. Das Player Piano

Dr. Hocker - der große steife Mann - hat den Bösendorfer in Brüssel aufgestöbert und in liebevoller Kleinarbeit repariert. Seitdem kann man Conlon Nancarrows Walzen wieder in Europa spielen.

Das Player Piano ist ein Relikt aus der Vorgeschichte der Musikindustrie. Vor der Erfindung der Schallplatte und noch in ihrer Frühzeit stand es in bürgerlichen Salons, Caf'ehäusern und Puffs. Es arbeitet wie gesagt mit einer Papierrolle. Sie hat Schlitze. Sie gleitet über eine Leiste, in der sich soviele kleine Öffnungen befinden, wie das Klavier Töne hat. Von jeder dieser Öffnungen führt eine Röhrenleitung zu der zugehörigen Klaviertaste. Sobald ein Schlitz im Notenblatt auf eine Öffnung in der Leiste trifft, wird durch Druckluft die entsprechende Taste niedergedrückt. Eine Reihe von Hilfslöchern im Notenblatt wirkt auf die Pedale, andere bringen durch Regelung des Winddrucks den verschieden starken Anschlag der Tasten hervor. Nancarrow?

Wie von selbst entsteht in der makellossen perlweißen Tastenreihe des Bösendorfer ein Loch. Dann viele Löcher. Die Löcher tanzen, so schnell, daß kein Auge ihnen folgen kann. Überall wo ein Loch ist, ist auch Musik: metallisches Zirpen, huschende Arpeggien, meckernde Tremoli.

1927 attestierte Paul Hindemith dem mechanischen Klavier die „Möglichkeit der absoluten Festlegung des Willens des Komponisten, Unabhängigkeit von der augenblicklichen Disposition des Wiedergebenden, Erweiterung der technischen und klanglichen Möglichkeiten, Eindämmung des längst überreifen Konzertbetriebs und Personenkults, wohlfeile Verbreitungsmöglichkeiten guter Musik.“

Als Conlon Nancarrow in den vierziger Jahren von Mexico City - wo er seit 1940 lebt, weil ihm die USA wegen seiner Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg in der International Brigade das Paßrecht entzogen - nach New York City kam, um sich jemanden zu suchen, der ihm eine Mechanik für sein Klavier baute, war das Player Piano längst kein besonders aktuelles Gerät mehr. Es gab kaum noch Instrumentenbauer, die sich damit auskannten. Erst ein Spezialist für mittelalterliche Musikinstrumente verstand Conlon Nancarrows Problem und konnte ihm einen Mechaniker vermitteln. Die Apparatur kostete 300 Dollar. Nancarrow nahm sie mit nach Mexico City. Seitdem, seit vierzig Jahren, stanzt er Löcher in Papier. Die dritte Wurzel aus Pi

Im Canon X gibt es nur zwei Stimmen, eine Baß- und eine Diskantstimme. Die Baßstimme beginnt langsam, mit 3,5 Tönen pro Sekunde, die Diskantstimme extrem schnell, mit 37 Tönen pro Sekunde schneller als je ein Pianist es könnte. Nach und nach steigert die Baßstimme ihr Tempo, während die Diskantstimme ebenso kontinuierlich bremst. Dann überholt die Baßstimme die Diskantstimme, die inzwischen immer härter hämmert, erst in einfacher, dann in zweifacher, dann in dreifacher, dann in vierfacher, dann in fünffacher Oktavverdoppelung. Alles ist genau berechnet. Beide Stimmen spielen dieselbe 54-Tonreihe, die sich aus vier Zwölfton und einer Sechstonreihe zusammensetzt. Bei jeder Wiederholung der Reihe wird ein Ton mehr weggelassen. Bis zum Schluß die ganze 54-Tonreihe noch einmal von vorn erklingt. Die Diskantstimme spielt in fünffacher Oktavverdoppelung 2,33 Töne pro Sekunde, die Baßstimme 111. Ein so gewaltsames Drängen und einen so abrupten Schluß habe ich in der Musik noch nicht gehört.

Conlon Nancarrow, heißt es, beschäftigt sich mit Temporelationen, das Tempo ist bei ihm selbst zum wichtigsten musikalischen Parameter geworden. Seine Kunst ist kanonisch. Zwei oder mehrere identische Stimmen, oder besser Schichten und Ereignisreihen stehen in einem Tempoverhältnis von 4 zu 5 oder 60 zu 61 oder 21/24/25 oder, wie in einer der spätesten Studies für Player Piano, im Verhältnis 1 zur 3. Wurzel aus Pi zur 3. Wurzel aus 13/16 gegen 1 zur Wurzel aus Pi zur Wurzel aus 2/3, oder sie beschleunigen im Verhältnis 5%/6%/8%/11%.

Die Studies sind, trotz vieler freier Passagen, mathematische Übungen, akustische Graphiken. Aber das ist nicht das, was man hört. Das arme Tier

Was man hört ist, was man in medizinischen Lehrfilmen sieht, wenn einem kleinen Kalb ein künstliches Herz eingepflanzt ist und hinten ein Kabel heraushängt, das in eine Mehrfachsteckdose führt. Das Kalb läuft über ein Rollband. Das arme Tier, es leidet für uns! Den Blick hat es nach innen gewandt, auf etwas, das in ihm außer ihm ist, diese Mechanik, die sich da von ganz allein zusammenpreßt und auseinanderzieht und die jederzeit aussetzen kann.

So arbeitet die Mechanik im einsamen Bösendorfer. Es zerreißt ihm fast die Eingeweide. Rasende Glissandi stauchen sich im tiefsten Baßton oder brüllen gleich ins offene Pedal. Zwölf panische Triller zugleich - nicht drei wie in Beethovens Sonate op. 111: Das ist jenseits der Grenze. Die Musik hat sich losgelöst - vom Komponisten, der unmöglich alle Klänge vor seinem inneren Ohr geprüft haben kann, vom Zuschauer, der den Löchern in der Tastatur nachjagt, von allen Interpreten sowieso, vom Instrument, diesem Versuchstier, von sich selbst. Die Musik gibt sich gewissermaßen indirekt als Funktion mathematischer Organisation und eigengesetzlicher Triebwerke. Konkret hört man zwar Witz, Melancholie, Chaos, Rasen und Panik, die man als musikalischen Ausdruck deuten möchte, aber die Charaktere sind unheimlich und ungreifbar wie eine Luftspiegelung überm Asphalt. Der arme Mann

Es gibt auch ein paar Stücke, in denen richtige Musiker mitspielen. Eine Toccata für Violine und Player Piano. Der arme Ottfried Nies! Wie eine Peitsche den Kreisel treibt ihn die Mechanik vor sich hin. Das Stück dauert anderthalb Minuten, der Mann ist völlig erschöpft.

Beim späten Tango für Klavier muß Hermann Kretzschmar, der auch nur zwei Hände hat, einen kompliziert synkopierten 3 zu 4 zu 5-Konfliktrhythmus bewältigen. In der wilden Apotheose geht es 5 gegen 7. Flaschenpost ist angekommen

Seit vierzig Jahren sitzt der heute 76jährige Conlon Nancarrow in Mexico City und stanzt Löcher in Papierrollen. Für eine Achtelsekunde Musik braucht er im Durchschnitt eine Stunde, ein Stück von drei oder vier Minuten - länger ist kaum eine seiner Studies - benötigt ein halbes Jahr reine Stanzzeit, die Komposition nicht gerechnet. Knapp fünfzig Studies hat Nancarrow so komponiert, Gesamtspieldauer vier Stunden. Wer seine Musik hören wollte, mußte Nancarrow in Mexiko besuchen. Er hatte die einzigen Instrumente, auf denen man seine Rollen noch abspielen konnte. In den fünfziger Jahren hat John Cage ihn besucht und war begeistert, hatte aber nichts in der Hand, Nancarrows Musik zu propagieren. Erst Ende der siebziger Jahre wurden die Studies vom kleinen 17 50 Arch -Label auf fünf Platten veröffentlicht und damit zum ersten Mal der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Diese inzwischen vergriffenen Platten erscheinen in Kürze bei Wergo als CDs.

Conlon Nancarrow hat selber übrigens nie Klavier gespielt.

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