piwik no script img

Glasnost-Bestseller

■ Die Diskussion über Anatoli Rybakows „Die Kinder des Arabat“

Natalia Rubinstein

Anatoli Rybakow, 1911 geboren, gehört zur ersten Generation sowjetischer Bürger, die nach der Revolution aufgewachsen sind. Er ist Romantiker der Revolution, pragmatischer Sozialist und ein Schriftsteller des gesellschaftlichen Bedarfs. Das soll nicht heißen, daß sein Schreiben von oben diktiert sei sondern, daß er sich zum Thema macht, was - im Lichte seines Verständnisses davon - den Bedürfnissen seiner Gesellschaft entspricht.

Als Schriftsteller hat Rybakow Mißerfolg nicht kennengelernt. 1948 fing er als 37jähriger an zu schreiben, von Kriegsnarben gezeichnet und durch die Tatsache politischen Exils in seinen Karriereaussichten behindert. Rybakow wählte für sein Debut das richtige Publikum - und schrieb sein erstes Buch für Kinder, eine hübsche Abenteuergeschichte mit dem Titel „Der Dolch“. Ort der Handlung war die Arbat-Straße in Moksau, ihre Helden moskauer Schulkinder der Zwanziger Jahre: die „Kinder des Arbat“ in einer ersten, flüchtigen Skizze. Es sind genau diese Charaktere, - erwachsen geworden und ausgestattet mit Namen aus einer anderen Kindergeschichte Rybakows („Der Schuß“) - denen wir in diesem Roman begegnen, der zweimal von der Zensur in den Sechzigern und Siebzigern unterdrückt und schließlich im letzten Jahr im Magazin 'Druzhba naradov' erschienen ist. Der Text erregte sofort großes Aufsehen und wurde „schier zu Fetzen gelesen“. Anschließend wurden „Die Kinder des Arbat“ in einer Zweimillionen-Auflage als Buch veröffentlicht - und prompt ausverkauft. Als der Roman in diesem Jahr auch auf Englisch erschien, wurde der Autor von Hutschinson's (Verlag) nach Großbritannien eingeladen, in Radio und Fernsehen interviewt und Hunderte seiner Bücher auf öffentlichen Veranstaltungen signiert.

Rybakow ist ein Schriftsteller, der immer schon hellhörig auf gesellschaftliche Nachfragen reagiert hat, und die Nachfrage nach Literatur über Stalin war bereits in den Sechzigern deutlich gestiegen. Damals fing er an, „Die Kinder des Arbat“ zu schreiben. Gerüchten zufolge hat Gorbatschow den Roman damals gelesen und gemocht, eine nette Ironie wenn man bedenkt, daß Genosse Stalin höchstpersönlich - immer nach moskauer Legende - sehr darum besorgt gewesen sein soll, Rybakow den Stalin-Preis für seinen Roman „Fahrer“ zukommen zu lassen (während Beria, der seine politische Vergangenheit kannte, dies zu verhindern suchte). Damals herrschte große Nachfrage nach Industrie-Prosa, und Stalin - durchaus kein anspruchsvoller Leser - hatte sich aus der literarischen Fließbandproduktion diesen kraftvollen und spannenden Roman Rybakows herausgesucht.

Heutzutage wollen Leser die Wahrheit über die Geschichte der Sowjetunion wissen, und Rybakow hat versucht, diesem Bedarf - zumindest im Rahmen des Erlaubten - zu entsprechen. Viele seiner Leser sind erst nach Stalins Tod geboren oder waren zur Zeit von Chrustschows Enthüllungen noch Kleinkinder. Sie setzen das erste Mal Fuß auf das ihnen unbekannte Terrain ihrer eigenen Geschichte und finden in Rybakows Roman ihr Reisebuch für die Vergangenheit. Leser der älteren Generation haben „Die Kinder des Arbat“ aus genau umgekehrtem Grund willkommengeheißen: hier werden Dinge ausgesprochen, die sie selber jahrelang nur allzugut kannten. Sie erinnern sich hier an Lehren der Vergangenheit, die ihnen - wie dem Helden der kafkaschen Strafkolonie - auf die eigene Haut geschrieben worden ist. In dem Versuch, seinen Lesern zu bieten, was sie verlangen, hat Rybakow nicht nur einen Bericht seine eigenen Erfahrungen zu Papier gebracht, sondern auch denen einer ganzen Generation Bedeutung gegeben und Folgerungen aus ihen gezogen.

Alles das erklärt, warum der Roman im Land seines Autiors mit großer Begeisterung begrüßt worden ist. Hinzu kommt die Figur Stalins, die so vielen kreativen Talenten schon Appetit gemacht hat, Rybakow ist nicht der erste - und keineswegs der beste -, der sich mit dem Thema des „bösen Genies“ beschäftigt hat (Solschenizyn eröffnete den Reigen, gefolgt von Grossmann, Simonov, Iskander und Terz, alias Sinjawski). Aber weder Rybakow noch seine Leser konnten ohne das auskommen. Und im literaturkritischen Rückblick (auch wenn es nicht gerade um große Literatur geht) macht das Spiel des Bösen den Text in der Tat spannender. Jeder Mensch möchte gern wissen, wie Kannibalen ihre Zähne reparieren und so tat Rybakow ganz recht daran, die Geschichte von Stalins Besuch beim Zahnarzt in den Roman einzubauen.

Wohlbekannte Ereignisse werden im Roman noch einmal interessant. In seiner Rede auf dem 20. Parteitag bestätigte Chrustschow den verdacht aller Parteigenossen, daß Stalin im Mord an Kirov seine Hand im Spiel gehabt hatte. Mit deduktiv -detektivischer Methode geht Rybakow den Tatsachen dieses Ereignisses und der Art siner Inszenierung nach: Prolog zum langdauernden Reigen des Großen Terrors. Es gibt eine weitere - politische oder offizielle - Komponente in der Nachfrage nach dieser Art von Romanen. Die Revision der Vergangenheit ist eine unterhaltsame Beschäftigung, aber es hat die Führer und Helden der Sowjetunion im Regen stehen lassen. Seit Herzen und Tschernischewski hat der russische Roman mit großem Eifer politisches Pamphlet und Sozialtraktat ersetzt, auf der Stirn die immergrüne Frage tragend „Wer hat die Schuld?“ und „Was muß geschehen?“. Diese Fragen stehen auch heute noch an. Aber jetzt ist eine neue Frage dazugekommen: „Gab es einen anderen Weg?“ In anderen Worten: War es unvermeidlich, daß die Diktatur des Proletariats zu einer Diktatur von Mördern wurde? Hat es in der Geschichte einen Weg gegeben, der unbetreten blieb? Die Antwort auf diese theoretische Frage hat praktische Bedeutung, denn von ihr hängt die moralische Kraft - und der Machterhalt - der jetzigen Mandatsträger ab. In der Vergangenheit kam man ohne sie aus, jetzt aber schient man sie zu wollen. Und mit zwei Millionen Exemplaren seines superpopulären Romans hat Rybakow diesem Mandat seine Unterstützung gegeben.

Nach Rybakow kann man von historischen Fehlern nicht sprechen. Denn was geschah, war ein historisches Verbrechen: die siegreiche Revolution wurde von einer Verbrecherbande an sich gerissen. In sinem Roman teilen sich die Akteure der Vergangnheit in Diener des Bösen einerseits und Träger der Gerechtigkeit andererseits, die durch eigene Weichherzigkeit der Macht verlustig gingen. Der böse Stalin tötete den guten Kirov. Der üble Schdanow überlebte den anständigen Ordschikidsche. In diesem Szenario sind alle anderen Wege erst mit den Vorkriegsmorden an Stalins politischen Gegnern versperrt worden. (Im Roman ist der Zeitpunkt dieser Morde noch nicht erreicht - aufgespart für eine bisher noch unvollendete Fortsetzung, „1935 und andere Jahre“, aus der bereits Teile im Moskauer Ogonyok veröffentlicht wurden.) Es ist die Sichtweise eines Komsomol-Mitglieds aus den Zwanziger Jahren, das sich früh unter den im Kampf um die Macht Unterlegenen wiederfand. Im unterliegenden Text der „Kinder des Arbat“ schlüpft Geschichte in die Konjunktiv -Stimmung des „wenn nicht“. Im Rückblick sehen Verlierer immer angenehmer aus als Sieger. Unsere Sympathie für sie stärkt die ernste Überzeugung deer Verlierer, daß, wären sie die Sieger gewesen die Wirklichkeit völlig anders ausgesehen hätte. Glücklicherweise kann diese These weder bestätigt noch widerlegt werden - doch immerhin in Frage gestellt.

In der Pro-Perestroika-Presse wurden „Die Kinder von Arbat“ außerordentlich warm willkommengeheißen, die Anti -Perestroika-Presse war ebenso uniform feindselig. Selbst die schärfsten Kritiker des liberalen Lagers haben ohne mit der Wimper zu zucken 500 Seiten eines literarisch hoffnungslosen Werkes geschluckt und literarische Kritik ist auf Rybakows ideologische Gegner beschränkt geblieben, „Zurück-zur-Natur„-Traditionalisten und Stalinisten. „Die Kinder des Arbat“ hat als Lakmustest für Liberalismus und die Haltung zur jetzigen Reform gedient.

Außerhalb der politischen und gesellschaftlichen Athmosphäre jedoch, die in zu Hause umgibt, wird der Roman in Übersetzung schlicht zu einem ganz anderen Buch, und englische Kritiker waren enttäuscht, als sie keine literarischen Verdienste an ihm entdecken konnten - was einige jedoch nicht davon abhielt, Rybakows Beschreibung vom Moskau der Dreißiger Jahre mit Bilgakows Moskau-Bild in „Der Meister und Margerita“ zu vergleichen, oder die Kapitel über Stalin mit denen über Napoleon in „Krieg und Frieden“, und die Beschreibung des Gefängistages vom Helden Sascha Pankratow mit entsprechenden Seiten von Soltschenizyn.

Solch harmloser Kinderglaube, der davon ausgeht, zwischen jedem möglichen Punkt russischer Literatur eine gerade Linie ziehen zu können, vernebelt jedoch nur unser Verständis dafür, warum ein fürchterlich schlecht geschriebener Roman ein riesiger Erfolg sein kann.

Rybakow hat seine Verdienste, aber man sollte ihn nicht mit Tolstoi oder Bulgakow vergleichen sondern eher mit Leon Uris, Harold Robbins oder Sidney Sheldon, in deren Büchern eine vergleichbar einfache Aufteilung zwischen Guten und Bösen, Schönen und Häßlichen existiert. Der hübsche Sascha Pankratow ist der sozialisitsch-realistische Held par excellence und sein Gegenspieler Jura Sharok nicht nur ein moralisch bedenklicher Charakter sondern zu allem Überfluß mit einem wenig wünschenswerten Kleinbürger-Hintergrund ausgestattet. Auch sonst findet man nur bei Uris und Sheldon, daß so selbstlos geliebt und so tapfer gekämpft wird wie in Rybakows Roman. Solche Schriftsteller können sich in ihrer epischen Kunstlosigkeit erlauben, an stilistische Feinheiten keine Gedanken zu verschwenden und Rybakow ist seinen westlichen Kollegen nur dort voraus, wo er mit rührender Schüchternheit seine Liebesszenen ausmalt.

In einer Kritik, die in der englischen Presse erschien, wurde Rybakows Geschichts-Chronik verglichen mit einem am Flughafen gekauften Knüller, der nach beendetem Flug auf dem Sitz liegenbleibt. In Rußland nennt man das - eine gewisse technische Rückständigkeit ist erkennbar - Straßenbahn -Bücher. „Die Kinder des Arbat“ sollte man gerechterweise in solchen Kategorien beschreiben.

Doch trotz der Ähnlichkeit mit Uris und Sheldon sollte man fairerweise die Unterschiede auch nennen, denn Rybakow erlaubt sich trotz aller inneren Verwandtschaft mit den Schreibern westlicher Populär-Romane dennoch Freiheiten, die bei uns die Leute von Truman Capote zu Uris und Sheldon abwandern lassen. Indem er die Last des klassischen Romans auf sich nimmt, die sie strikt meiden - all die politischen Polemiken und philosophischen Abhandlungen - wird er zum Mitbegründer eines neuen Genres, des Glasnost-Bestsellers (ein anderer ist Wladimir Dudinzew). Außer nationalistischer Pappmache-Literatur gibt es in Rußland nicht viel zum Schnell-Lesen.

Es ist zu hoffen, daß Rybakow zumindest die schlimmsten Ausrutscher hinter sich läßt - auch wenn er weiterhin mit Bulgakow und Soltschniszyn nicht vergleichbar sein wird. Durch das Hineingezogensein in ernsthafte Diskussionen über Gesellschaft und Geschichte verschafft er seien Lesern immerhin ein Gefühl ihrer eigenen Wichtigkeit, und erweckt damit, um mit Puschkin zu sprechen, „freundliche Gefühle“ in ihnen.

Sowjetische Kritiker haben ihre Gründe, wenn sie Rybakow so hoch bewerten. Man kann „Die Kinder des Arbat“ nur schlechten Gewissens ein gutes Buch nennen. Aber - wie Lenin schon über Gorkis „Mutter“, den Prototyp des sozialistisch-realistischen Romans sagte - es ist ganz gewiß „ein Buch zum richtigen Zeitpunkt“.

(Natalia Rubinstein emigrierte aus der Sowjetunion und arbeitet als Journalistin und Literaturkritikerin in London.)

„Die Kinder des Arbat“ sind auf deutsch bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen