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Ein „Hamlet“ gegen die Sowjet-Spießer

■ Edward Limonows Roman über die Roaring fifties im sowjetischen Vorstadtmuff

Ein Mensch rennt gegen den Zaun, er schlägt mit der Faust dagegen und schlägt die Latten doch nur noch tiefer ein. So stellt sich Edward Limonow, ehemals Sowjetbürger russischer Nationalität und heute Emigrant in Paris, in seinem autobiographischen Roman dar: in Selbstbildnis des Banditen als junger Mann. Eddy-Baby, ein fünfzehnjähriger „Hamlet“, lehnt sich im Jahre 1958 gegen die spießbürgerliche Enge des sowjetischen Provinzalltags auf, gerät dabei ins kriminelle Milieu und entgeht schließich um ein Haar dem Straflager.

Die Welt, die hier ersteht, ist eine Arbeitervorstadt von Charkow, in der sich die meisten Jugendlichen zu den „Unbekannten Meistern des Volkes“ zählen, zu den „Gaunern“, weil sie sich von der „Hammelherde“ abheben möchten und wo auch die meisten Väter den Knast schon einmal von innen gesehen haben. Es ist die Welt der öden, auf den nackten Acker geklotzten Mietskasernen, aber auch menschlicher Nischen, wie der Arbeiter-„Bar“ „Bombay“ und fliederbestandener Datschengärten. Leider geizt Limonow mit Schilderungen der Örtlichkeiten, und die Redaktion erspart sich darüberhinaus so manche Worterklärung. Was zum Beispiel ein „Gastronom“ ist, bleibt der Phantasie der Leser überlassen. Hier handelt es sich um ein Lebensmittelgeschäft, im gegebenen Falle bestimmt mit verhängten Fenstern, hinter denen einige Fisch- und Paprikakonservendosen und Trockensuppenpakete zu kunstvollen Pyramiden getürmt sind.

Diese Kulissen rühren sich auch dann nicht von der Stelle, wenn das gesellschaftliche Theater im Bewußtsein der Heranwachsenden zusammenbricht. Ein solcher Hintergrund ruft jene Schwermut hervor, die eigentlich namenlos sein müßte und doch die russische Bezeichnung „Toska“ trägt - ein Seelenzustand, der schnell in blinde Wut gegen die Obrigkeit umschlägt und in wilde Schlägereien ausartet. So liefern sich die „Zigeuner aus Tjura“ jeden Sommer mit den Bewohnern des Nachbarviertels „Schurawljow“ auf der großen Flußsandbank Schlachten, bei denen bis zu 400 Leute teilnehmen und auch schon mal einer auf der Strecke bleibt.

Das Milieu vermittelt Limonow in den menschlichen Beziehungen, durch den vorherrschenden Jargon - oft eine rüde-witzige Parodie der offiziellen Sprache. Seine Typen klassifiziert er ebenso genau wie die exotischen Pflanzen und Tiere, die er als Eddy-Baby in Herbarien abpauste: den „dekadenten Intellektuellen“ und Saxophonspieler Kadik, den „Roten Sanja“, Schlachter vom Pferdemarkt, die exzentrische Stadtstreicherin Toja, einst Oberstleutnant bei den Panzertruppen, und „Hollywood“ - mit Palmen auf der Badehose -, der angibt, ständig aus amerikanischen Filmen zu zitieren, was natürlich niemand von seinen Freunden nachprüfen kann.

Limonow hat es schon als Junge verstanden, sich durch das Schreiben einen inneren Freiraum zu schaffen, der ihn vor dem automatischen Schicksal seiner Kumpels bewahrte und ihm bei seiner Clique Geltung verschaffte. Der Anklang im Titel des vorliegenden Buches an James Joyce „Bildnis des Dichters als junger Mann“ ist allerdings zu hoch gegriffen. Die dürftige Romantik russischer Vorstädte in den 50er Jahren hat Jewtuschenko in seinen besseren Zeiten intensiver vermittelt. Aksjonow hat in seinem Roman „Gebrannt“ dasselbe Material künstlerisch distanzierter und trickreicher eingesetzt. Gelungen ist Limonow immerhin eine Reportage aus der Sicht der Unterprivilegierten in der sowjetischen Gesellschaft und ein detailliertes Zeitdokument. (Wer erinnert sich z.B. noch daran, daß Chruschtschow bei der Rückkehr von seiner legendären USA-Reise der Sowjetunion eine ganze Reihe von Cowboy-Filmen mitbrachte? Und daß die Provinzler westliche Kleidungsstücke zum Nachschneidern erstmals auf dem Weltjugendfestival 1958 ergatterten?) Als Zeitdokument ist Limonows Roman mitleidlos und auch ohne Selbstmitleid. Dieser Mangel an Weinerlichkeit ist umso bemerkenswerter, als Eddy-Baby, wie ihm scheint, von himmelschreienden Ungerechtigkeiten umgeben ist. Zwischen Privilegierten und Unprivilegierten, zwischen den verschiedenen Sowjetnationalitäten und zwischen Alt und Jung.

Warum haben manche Familien eine eigene Wohnung und können ihr persönlichstes Leben deshalb vor dem allgemeinen Präsentierteller retten? Warum geht es den Georgiern, Armeniern und aserbeidjanischen Schwarzärschen besser als uns, wo wir sie doch besiegt haben? Warum die Geheimnistuerei über die jüngste Vergangenheit und das ewige Mißtrauen der Eltern den Kindern gegenüber - verschärft durch die Enge des Zusammenlebens in einem einzigen Zimmer, wo noch die fünfzehnjährigen ihre schlaflosen Nächte quer zum Kopfende des elterlichen Ehebettes verbringen müssen.

Das muffige Miteinander, verbunden mit bigotten Moralvorstellungen, läßt für individuelle Entfaltung kaum Raum. Unter diesen Bedingungen ist es weiter nicht verwunderlich, daß die Vergewaltigung als allgemeines Muster eines sexuell aufregenden Vorganges gilt. Und daß Limonow -Eddy-Baby als Zeuge eines solchen Vorganges dann auch dem Klischee aufsitzt, das vergewaltigte Mädchen genieße den Vorgang noch, während nebenan ihr Freund ermordet wird.

An die Stelle der eigenhändig enger genähten Cordhosen sind heute in der Sowjetunion ausländische Jeans der edelsten Marken getreten und an die Stelle von Glenn Miller und Elvis Presley - Michael Jackson. Noch heute fahren die „Dandies“ von Zeit zu Zeit nach Tallin, denn „Estland ist gerade in Mode“. Soziale Revanche ermittelte eine Soziologin kürzlich als Hauptmotiv jugendlicher Straftäter ohne besondere Drähte bei der Warenverteilung.

Barbara Kerneck

Edward Limonow: Selbstbildnis des Banditen als junger Mann, P.S.Verlag Peter Selinka, Zürich 1988

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