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Drei Völker ermordet

■ Fasil Iskander, 1929 in Suchumi geboren, ist heute einer der erfolgreichsten Autoren der Sowjetunion. Er ist abchasischer und persischer Abstammung, lebt seit zwanzig Jahren die Hälfte des Jahres in Moskau. Im Oktober war er auf Lesereise in der BRD. Mit Fasil Iskander sprach Barbara Kerneck.

Im „Onkel Sandro“ schreiben Sie an einer Stelle: „Mit den Jahren begriff ich, daß ein so zerbrechliches Ding wie das menschliche Leben nur dann einen Sinn haben kann, wenn es mit etwas absolut Beständigem verbunden ist, das in keiner Weise vom Zufall abghängt.“

I.: Dieser Satz gehört für mich zum Thema der Erzählung, in der er fällt: In drei verschiedenen Episoden geht es da immer wieder um „Sklaverei“. Zuerst befreit Onkel Sandro buchstäblich einen Sklaven von seinen Kette. Er folgt dabei dem banalen liberalen Gedanken, daß der Sklave nun unverzüglich loslaufen wird. Der aber will sich gar nicht an einen neuen Ort begeben, sondern hat nur einen Gedanken: an Rache an seinem Herrn.

Das liegt zutiefst in der Natur des Sklaven; hier dient es natürlich als Gleichnis für die Geschichte Rußlands. Dann ist von einem kühnen Flieger die Rede, der lächerliche Angst vor seinen Vorgesetzten hat. Auch wer sich von körperlicher Angst befreit hat, kann sozial feige sein.

Drittens geht es um die Versklavung durch ein Leben ohne materielle Probleme: die Abhängigkeit von der Welt als solcher. Ich appelliere an einen höheren, an einen religiösen Wert. Der Mensch ist, wie ich es nennen würde, „geschützter“, wenn er sein Leben mit einem höheren Wert verbunden hat, mit einem religiösen Bewußtsein.

Deshalb verwende ich in dieser Novelle auch das kirchenslavische Wort für „fest“, in dem die „Feste“ des Himmels mitklingt. Der Mensch sollte sich mit etwas verbinden, was von irdischen Zufällen unabhängig ist - das heißt also mit Gott.

In der gleichen Novelle gibt es den armenischen Kaffeekoch Akopaga, von dem Sie sinngemäß sagen, nichts könne ihm zustoßen, solange er im Volke geborgen lebe. Kann jedes Volk für seine Mitglieder eine solche „Feste“ sein? Oder erfüllt das armenische Volk diese Rolle auf eine ganz besondere Weise?

Aha, aha, mir schwant, daß Sie allmählich die „armenische Frage“ ansteuern. Na, meinetwegen! Aber nun zu der konkreten Frage. Es gibt da ein Element des „unschädlichen Nationalegoismus“. Ich würde dann eine „nicht bösartige Form“ von Nationalismus diagnostizieren, wenn ein Volk zwar keinem anderen irgendetwas Böses wünscht, aber doch ständig um sich selber kreist.

War es in dort wirklich so, wie Sie es in Ihren Büchern schildern, daß Menschen mit den allerverschiedensten Muttersprachen einander verstanden?

Bei uns im Kaukasus sind nach den stainischen „Säuberungen“ die Türken verschwunden, die Perser und die Griechen, also drei Nationalitäten. Und für mich ist die „Heimatluft“ dadurch für immer getrübt.

Als Schriftsteller habe ich zu den Lauten der menschlichen Stimme die gleiche Beziehung wie der Komponist zu seinen Tönen. Und wenn nun aus dem Orchester schon drei Instrumente herausgenommen sind, verarmt die Musik hörbar.

Die Sprache, die sie alle vereinte, war vor der Revolution und auch noch zehn bis 15 Jahre danach das Türkische. Denn nach dem Fall von Byzanz im 12., 13. Jahrhundert hatte sich der Einfluß der Türken im Kaukasus beständig verstärkt, was natürlich auch mit dem islamischen Glauben zu tun hatte. Die alten Leute können also ihre eigene Muttersprache, dazu das Türkische und dazu noch die Sprache ihrer Nachbarn, mit deren Kindern sie großgeworden sind. Heute spielt das Russische diese verbindende Rolle.

In welcher Sprache sind Sie großgeworden?

Ich wuchs zweisprachig auf: russisch/abchasisch und kann gar nicht sagen, was meine Muttersprache ist. Ich habe auch mein ganzes Leben in der Stadt verbracht und bin doch als Kind jeden Sommer bei meinem Großvater auf dem Dorf gewesen. Ich glaube, daß ein Schriftsteller auf ein gewisses Maß an Zwiespältigkeit nicht verzichten kann.

Sie haben einmal etwas geäußert, was mir als Schlüssel zur armenischen Frage erschien: daß es bei dem traditionellen Zusammenleben der Völker im Kaukasus zu einer solchen Zuspitzung nationaler Konflikte nur durch die Zuspitzung sozialer Widersprüche kommen konnte.

Das ist mein Hauptgedanke. Natürlich weiß ich, daß der menschliche Nationalismus tiefere Wurzeln hat als alle anderen sozialen Phänomene. Für die halbwilden Stämme war es ein wichtiger Überlebensmechanismus, daß sie ihren Stamm im Zentrum des Universums wähnten und glaubten, sie verkörperten die Menschheit in einer höheren Form als die Mtglieder des Nachbarstammes.

Aber in dem Maße, in dem sich Ackerbau und Handel durchsetzten, waren die Leute doch schon gezwungen, einen allgemein-menschlichen Kosmos anzuerkennen.

In unserem Falle glaube ich, daß die nationalen Emotionen so zu kochen begannen, weil soziale Fragen allzulange ungelöst blieben.

Die Geduld ist einfach erschöpft. Ich zitiere gerne das abchasische Sprichwort: wenn zwei Ochsen zusammen ein besonders steiniges Feld pflügen, beginnt jeder von ihnen, auf den anderen zu schielen, ob der sich dabei nicht etwas weniger in die Riemen legt, als er selbst.

Bei uns waren die sozialen Bedingungen wirklich sehr schlecht und wir hoffen jetztbei der Perestroika auf Verbesserungen.

Die chronische Vernachlässigung sozialer Interessen hat dazu geführt, daß die Menschen ihren allgemein menschlichen Horizont wieder verloren und zu einer ziemlich atavistischen Haltung zurückkehrten: die Leute von unserem Stamm sind doch die einzigen, die zu uns halten.

In einer solchen Situation beginnt sich das sozial Schädliche in den andersartigen, den „Fremden“ zu verkörpern. Als Inbegriff dieser Projektion habe ich in meinen Erzählungen die „Endursker“ erfunden. Als Auslöser für diese Emotionen diente die Situation in Berg-Karabach.

Ich will mich jetzt nicht über die historische Zugehörigkeit dieses Gebietes verbreiten, aber Tatsache ist nun einmal, daß früher 90, jetzt 80 Prozent Armenier dort leben, und für sie brachte das Dasein ganz konkrete Beleidigungen mit sich: daß es nicht genug Lehrbücher für ihre Kinder gab, daß es unmöglich erschien, eine ordentliche Straße nach Jerewan zu bauen oder armenische Fernsehsendungen zu empfangen, obwohl die Entfernung nur etwa 40 Kilometer beträgt.

Gleichzeitig kamen Illusionen auf, daß alle Widersprüche auf ein Minimum reduziert würden, wenn Berg-Karabach nun armenisch wäre. Tatsächlich würde dadurch natürlich keines der Probleme verschwinden. Der Nationalismus fungiert hier nur als nicht erkanntes Synonym für die sozialen Widersprüche.

Könnten Sie diese Widersprüche näher beschreiben?

Zum Beispiel die allgemeinen Korruption, die vielen Schmiergelder. Wenn nun jemand in Karabach sieht, daß man, bloß um ein Kind im Kindergarten anzumelden oder sich zur Berufsausbildung in einem Institut anzumelden dem Direktor oder Abteilungsleiter astronomische Summen bezahlen muß, dann glaubt er natürlich, daß das anders wäre, wenn das Gebiet zu Armenien gehörte, dabei ist es dort und in Leningrad und überall sonst genauso.

Diese sozialen Widerprüche stehen erstmal im Zentrum der Perestroika: die niedrigen Löhne, der Diebstahl von Material in den Fabriken. Es sind diese Erscheinungen, die die Menschen derart ermüden, daß sie sich schließlich in den Nationalismus flüchten.

Taz: Sie halten es auch für möglich, solche nationalen Minderheiten wie Deutsche und Krimtataren zufriedenzustellen?

I: Bei den Krimtataren ist das einfach, bei den Deutschen verhält es sich etwas komplizierter, weil sehr viele Deutsche jetzt schon nach Deutschland ausreisen wollen. Da muß man klären, wer von ihnen überhaupt wohin möchte. Aber die Krimtataren wollen einfach zurück auf die Krim.

taz: Fordern sie nicht eine neue autonome Republik?

I: Doch, aber ich halte es für überflüssig, das zu erwähnen, denn die Autonomie ist doch bei uns überhaupt eine Fiktion (lacht). Ich meine das nicht absolut. Aber da ich ja selbst in einer autonomen Republik aufgewachsen bin und dort noch lebe, weiß ich, wieviele Fragen ganz unsinnigerweise irgendwo im Zentrum entschieden werden. Aller möglicher Kleinkram.

Deshalb sage ich, daß es zumindest eine Halbfiktion ist und daß die Forderung nach einer autonomen Republik zudem auch noch die Moskauer aufbringt. Aber das ist eine rein taktische Frage. Man muß von der Rückkehr in die Heimat sprechen.

Also eine individuelle Lösung?

Ja, sie wollen einfach auf ihrer Heimaterde leben, in ihrer nationalen Familie, daß ist ihr heiliges Recht, denn man hat sie zu Unrecht verjagt. Natürlich hat es unter ihnen auch Verräter gegeben, aber weshalb soll man verschweigen, daß es die auch unter den Russen und Ukrainern gab?

Die deutschen Truppen wurden in vielen russischen und ukrainischen Dörfern anfangs mit Brot und Salz empfangen, weil man dort hoffte, Hitler werde mit den Kolchosen Schluß nachen! (lacht)

Aber Hitler war zu blöd, das zu begreifen. Er begriff nur, daß sein Raub sich auf höchst bequeme Weise vollzog. Es hat also überall Verrat gegeben und er hätte in jedem Einzelfall konkret nachgewiesen werden müssen. Umso mehr als es im tatarischen Volke viele sehr kühne Kämpfer und Partisanen gab. Stattdessen hat man unterschiedslos alle evakuiert und ist viehisch mit ihnen umgesprungen, aber das ist ja ein Thema für sich.

Wieviele Jahre zieht sich die Lösung dieser Frage nun hin? Wir wissen nicht, wozu das schon morgen führen kann! Fälle von Selbstverbrennung hat es schon gegeben, vielleicht nehmen sie morgen die Waffe in die Hand, vielleicht wird es zu Terrorismus kommen. Und dann wird das große Geschrei losgehen! Warum denn, warum?

Jeder soll also eigenständig auf die Krim zurückkehren und sich dort eine Existenz gründen?

Ja, ja, natürlich! Dabei ist es allerdings bei unserem Melderecht auch dann oft unmöglich, sich an einem anderen Ort anzusiedeln, wenn es formal gar nicht verboten ist. Deshalb muß in dieser Frage ein ganz harter und klarer Beschluß gefaßt werden. Wenn man mich fragen würde: ich würde nicht nur einfach die Erlaubnis geben, sondern nach meiner Überzeugung ist der Staat sogar verpflichtet für diese Menschen eine gewisse Geldsumme aufzubringen, und ihnen wenigstens bei der Gründung von zwei, drei Dörfern materiell zu helfen. Andere werden sich dann schon allmählich dazugesellen.

Und noch etwas glaube ich: wenn die Rückkehr auf die Krim Realität geworden sein wird, werden viele gar nicht mehr übersiedeln wollen.

Schließlich ist so eine Verpflanzung für die Menschen gar nicht so einfach. Das Verbot spielt eine große Rolle. Wenn ich zum Beispiel hier lebte und würde für meinen Weg zur Arbeit die linke Trottoirseite benutzen und plötzlich hieße es: weil du Russe - oder Abchasier - bist, darfst du hier nicht langgehen! Selbst wenn es mir bis dahin total gleichgültig gewesen wäre, auf welcher Seite ich gehe, würde ich nun natürlich mit aller Kraft darum kämpfen, die rechte benutzen zu dürfen. Denn in solchen Dingen liegt eine Beleidigung der menschlichen Würde. Und wenn also die Tataren diese Erlaubnis erhielten, würde meiner Meinung nach sogar die Mehrheit nicht fahren. Zumal viele von ihnen Landwirtschaften haben.

Seit ihren letzten Äußerungen hat eine Sitzung des Obersten Sowjet stattgefunden, auf der beschlossen wurde, daß Berg -Karabach bei Aserbeidschan belassen werden soll. Wie schätzen sie das ein?

Ich glaube es ist für die Regierung angesichts der erhitzen nationalen Leidenschaften wirklich eine sehr, sehr schwierige Situation, wenn sie plötzlich entscheiden soll: ja, das Gebiet bleibt bei Aserbeidschan, oder: nein, Berg -Karabach muß für ewig armenisch werden!

Wir dürfen aber auch nicht vergessen, daß die Zentrale sich selbst in diese Situation gebracht hat, indem sie diese Frage seit mehr als 15 Jahren verschleppt hat. Es hätte bei den Armeniern in Berg-Karabach gar nicht erst das Gefühl aufkommen dürfen, vom eigenen Volk isoliert und versprengt zu leben. Man hätte also ihre Bindungen an Armenien fördern müssen.

Und jetzt? Kein Territorium ist doch den Tod eines einzigen Menschen, eines einzigen Kindes wert! Deshalb muß man jetzt in erster Linie dafür sorgen, daß sich die Leidenschaften legen. Es war da ja noch von einem weiteren Weg die Rede: das Gebiet provisorisch der Russischen Föderativen Sowjetrepublik anzugliedern. Aber - vorerst haben sie diesen Weg nicht beschritten.

Von Fasil Iskander sind im S. Fischer-Verlag erschienen: Belsazars Feste - Aus dem Leben des Sandro von Tschegem, 373 Seiten, 36,-DM; Der Hüter der Berge oder Das Volk kennt seine Helden - Neues aus dem Leben des Sandro von Tschegem, 384 Seiten, 39,80 DM.

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