: Aber so geht es auch
■ Dargomyshski und Schönberg an der Ost-Berliner Komischen Oper
Elisabeth Eleonore Bauer
Wenn eine Premiere platzt, weil ein Sänger ausfällt, dann gibt man eine Pressekonferenz oder man greift zurück aufs eigene Ensemble oder sucht eilig Ersatz oder verschiebt den Termin. Oder springt, wenn man sich's leisten kann, selbst ein auf der Bühne, wie etwa Berghaus damals in Brüssel bei ihrer Lulu.
Es geht auch anders. Harry Kupfer, Chef der Komischen Oper, besann sich aufs Handwerk und erarbeitete in kürzester Frist eine Ersatzproduktion. Statt der bewährten Lucia gab es nun zwei Zuckerln an einem Abend - zwei Sogenkinder vom Rande des Repertoires: Der steinere Gast von Alexander Sergejewitsch Dargomyshski und Die Erwartung von Arnold Schönberg. Das eine Stück, serviert als „DDR -Erstaufführung“, gilt als exotisch, das andere, immerhin eine „DDR-Bühnenerstaufführung“, als ein Schlüsselwerk der Moderne. Und beide sind eine harte Nuß. Zwar kommen sie ohne den ganzen großen schwerfälligen Opernapparat aus und möglicherweise auch mit einem Minimum an Ausstattung - doch braucht es andererseits einen klugen Kopf und eine glückliche Hand, will man sie über die Rampe bringen.
Um es gleich zu sagen: Zwei Punkte kriegt Kupfer sowieso schon für die Idee und für den Mut zur Lücke. Doch was am Ende zählt, ist das Ergebnis - und das war, wie es verschämt auch auf dem Programmzettel stand, eben eine „musikalischtheatralische Aktion“. Vierundzwanzig Buchstaben plus ein Gummibegriff machen zusammen eine Verlegenheit: MTA nämlich ist, wenn etwas passiert, das sich weder für die Musik noch fürs Theater so recht entscheiden kann.
Für die Erwartung zum Beispiel wurde Catherine Gayer vom West-Berliner Opernhaus engagiert - und das ist an sich schon mal ein Ereignis. Gayer ist für eine Sängerin ihres Rollenfachs bewundernswürdig lange aktiv. Sie pflegt einen bestimmten Gesangsstil, der allgemein bekannt und durchaus Geschmackssache ist: con fuoco und entschieden expressionistisch - mit viel Vibrato in den hohen Lagen und sonorem Parlando in den tiefen. Sie zieht die Vokale lang und spuckt die Konsonanten ins Parkett: „Die Pluumen tuuuften zoo schtarrrck“ oder „iiech hattte tiech zoo liiepp“. Das ist prima Oper, aber just bei dieser Partie nicht angemessen. Erstens hat Schönbergs Monodram schon selbst ein unerhört expressives Melos und eine assoziative Dichte von Text und Ton, die, derart dick aufgetragen, leicht umschlägt in Karikatur. Zweitens leidet häufig die Intonation, wenn schwierige Sprünge mit Vibrato verbrämt werden. Und drittens geht durch ein Zuviel an Interpretation die schillernde, glühend-kühle Mehrdeutigkeit dieser frei atonalen Musik den Bach runter.
Eine Frau läuft nachts durch den Wald und führt Selbstgespräche. Sie sucht ihren Geliebten und findet ihn schließlich tot. Der Mond scheint, die Seele liegt bloß. So pur und brutal die Gefühle, die durchlaufen werden - als läge da eine auf der Couch des Psychoanalytikers. Die Diagnose freilich bleibt offen: Ist diese Frau, die seit drei Tagen gewartet hat auf den Mann und nun hastig Baumstämme stolpert, sich fürchtend vor dem eigenen Schatten, schlicht durchgeknallt und der Tote nur eine Vision ihrer überreizten Fantasie? Oder liegt er da wirklich ermordet im Gestrüpp vor dem Haus der Rivalin? Oder hat die Frau ihn gar selbst im Affekt getötet, aus Eifersucht, bevor die Musik überhaupt anfängt, und wird sich dann erst allmählich klar über sich, durch Haß, Liebe, Angst, Anklage, Trauer, Verzweiflung?
Schönbergs Stück sind alle drei Möglichkeiten und noch mehr eingeschrieben - Kupfer wählte das Verfahren „grober Klotz“ und reduzierte Die Erwartung auf eine plakative Studie weiblicher Hysterie. Inklusive Wohnzimmermief auf der äußeren und eklem Gewürm auf der inneren Seite der armen Bourgeoisfrau. Das Orchester unter Leitung von Rolf Reuter griff gleichfalls brav zu und spielte mit Schmackes so manche kammermusikalischen und klangfarbigen Feinheiten unter den Tisch. Eine runde, intensive Sache, ein Konzept, das in sich stimmig war und aufging mit großem Applaus. Aber danach sehnt man sich eben doch heftig nach Schönberg zurück.
Beim Steinernen Gast ging es umgekehrt, da fehlte es an Orchesterlärm und -leben. Wie die West-Berliner Kammeroper, die das Stück voriges Jahr ausprobiert hat, hielt man sich werkgetreu an die „vom Komponisten hinterlassene Fassung“, und das heißt: an den Klavierauszug. Rechts auf der Bühne steht der Flügel, links steht ein „Mythos, aus dem ... ein Typus“ geworden ist und singt. Nun war ja solch spröder Studierklang keineswegs vom Komponisten gewollt, die Kaskaden in den lyrischen Liedern schreien geradezu nach süßen Holzbläsern, und als dann am Ende der Komtur kommt, da braucht es dringend Streicher und Blech. Dargomyshski hat seine Musteroper nicht instrumentiert, weil er dazu nicht mehr in der Lage war: Er ist 1869 mitten in der Arbeit gestorben, und hatte vorher seine Freunde Cui und Rimsky -Korsakow mit der Vollendung des Werkes beauftragt. Deren Orchesterfassung liegt vor.
Dargomyshski war ein wunderlicher Vogel. Hauptberuflich ein ganz gewöhnlicher russischer Adliger, Lebemann und Ästhet. Pianist und Komponist war er nur so nebenbei; sein Oeuvre besteht zum größten Teil aus sentimentalen Liedern, die er für Schülerinnen und weibliche Fans verfaßte. „Wenn es keine Frauen in der Welt geben würde, wäre ich kein Komponist geworden.“ Allerdings wurde er als Komponist dann zur Gallionsfigur der jungrussischen Schule, dem sogenannten „Mächtigen Häuflein“, das auf der Suche nach neuen Wegen jenseits der europäischen Operntradition war. Regelmäßig kamen Mussorgski, Ciu, Balakirev und Rimsky-Korsakov im Hause des Meisters zusammen und begutachteten die Fortschritte am Steinernen Gast. Es war die vierte Oper Dargomyshskis und ein echtes Experiment: ohne Arien, Chöre und den anderen üblichen Kram, direkt und durchgehend auf den Text von Puschkin komponiert - heute würde man das musikalische Prosa nennen, Caesar Cui nannte es ein „melodisches Rezitativ“.
Mit Wagner hat das rein gar nichts zu tun, dazu ist die Musik harmonisch und melodisch viel zu old-fashioned. Wenn überhaupt, dann hält sie es eher mit der französischen als mit der deutschen Romantik - und ist doch wieder ganz anders: russisch und kitschig, randvoll mit Ohrwürmern. Das „Leitmotiv“ der Liebe zum Beispiel, vier hohe Terzklänge in Sequenz, läßt sich am liebsten gleich mitsingen - und Tschaikowsky, der sich doch böse mokierte über das „Mächtige Häuflein“, hat für seinen Eugen Onegin viel daraus gelernt. Rudimente von „Nummern“ gibt es aber auch genug, dazu theaterwirksame Tonmalereien und witzige Assoziationen.
Drohend steigt eine Ganztonskala auf und nieder für den Auftritt des steinernen Gastes, wie als Referenz an die Komturszene aus Mozarts Don Giovanni. Nicht umsonst hat Dargomyshski für sein Experiment eben den Stoff gewählt, der durch die „Oper aller Opern“ bereits seine endgültige Formulierung erhalten hatte. Don Juan ist ein bürgerlicher Held geworden, ein bißchen faustisch und ein bißchen mephistophelisch, so fährt er zur Hölle - und hat dabei unsere ganze mitmenschliche Sympathie. Denn schließlich gibt es solche Dons mittlerweile „wie Sand am Meer“ (sagt Leporello), und auch die Damen dazu sind Dutzendware und reine (Opern-) Typen. Donna Anna, das Ideal; halb Elsa, halb Zerlina, ist sie ein bißchen blöd und etwas kokett wie alle guten Frauen, wofür sie denn auch, anders als bei da Ponte, am Ende mitgehangen wird. Überleben darf Laura, das weibliche Gegenstück zu Don Juan, die glatt als Carmen durchgehen kann und wie alle schlechten Frauen nur ein Intermezzo abgeben darf. Der Rest ist Statisterie.
Kupfer läßt sie agieren wie auf einem Reißbrett: Puppen vor sich herschiebend, maskiert, gepanzert, stilisiert. Nur das eigentliche Paar, die Hure und der Wüstling, trägt menschliche Züge. Auch diesmal stimmt das Konzept und geht doch nicht auf. Regie und Klavierklang sorgen für Distanz und sagen: Seht her, paßt auf, ein Lehrstück. Aber der Mann am Klavier (Wolfram Krauß) wirft sein Herz mit in die Tasten und sie singen und spielen so wundervoll: Stephan Spiewok als Don Juan und Dagmar Schellenberger als Donna Anna, voll da durch alle Register. Man ahnt, der Steinerne Gast ist doch wirkliche Oper.
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