Renee Zucker: Lieber Gott, mach mich fromm...

■ Ermüdung anti-autoritärer Gebärden und das selbstgefällige Pathos der "Grenzziehung"

Renee Zucker

Einer der ersten Abzählreime, die ich erinnere, fing an: „In einer Bude / saß ein Jude / Kopf voller Läuse / Mi-Ma-Mäuse .., den Rest weiß ich nicht mehr. Juden waren für mich die alten Männer in den kleinen, dunklen Kiosken, die Silberlinge (!) und Knöterich für 1 Pfennig 2 Stück verkauften. Ich kann mich nicht erinnern, daß mein jüdischer Vater jemals ein Wort darüber verloren hat, wenn wir mit diesem Abzählreim Versteckspiele in der Wohnung begannen. Aber das ist eine andere Geschichte, warum jüdische Eltern ihren Kindern nichts gesagt haben.

Kapielskis Diskothekentext fand ich in der üblichen „Ich -bin-genial-und-deshalb-pubertär„-Manier geschrieben und habe ihn deshalb nicht zu Ende gelesen. „Gaskammervoll“ gehörte dazu und bedeutete mir keine Extra-Empörung. Den „Anselm Kiefer„-Satz habe ich inzwischen fünfmal gelesen und mir die verschiedensten Interpretationen überlegt. Hatte Kapielski die Information, daß ausschließlich jüdische Sammler auf Kiefer stehen, aus der besprochenen Kultursendung oder weiß er das, weil er selbst im Kunstbetrieb tätig ist? Meint er, daß wir blöden Deutschen aus einem Schuldgefühl heraus alles toll finden, was New Yorker Kulturjuden featuren, und nicht merken, daß Kiefer im Grunde Nazi-Botschaften verkauft? Inzwischen ist es mir egal, was Kapielski gemeint haben könnte, weil ich beim Lesen kein Rätselraten möchte. Müde bin ich von den „zornigen jungen, alten Männern“, die immer noch der bloßen anti-autoritären Gebärde eine eigene Qualität suggerieren.

Auf einen Richtertisch zu scheißen, ist nur einmal revolutionär, danach verkommt es zur eitel-dumpfen Pose. Wie mir überhaupt die derzeitige Aufregung als eine Art Posenkür der jeweiligen Fraktionen verkommt. Tatsächlicher Ekel überkam mich erst am Freitag, als ich Bornhöfts, Gaserows, Bünings 'taz-intern‘ las. Ein streberhaftes, denunzierendes, bigottes „Sich-an-die-saubere-Brust-Geklopfe“, scheinbar objektiv zusammengefaßt, was am historischen Montag an „Ungeheuerlichkeiten“ ausgesprochen wurde. Ich war an jenem Montag nicht dabei, weiß von den unterschiedlichsten Seiten, daß sich Sabine Vogel, Gabriele Riedle, Regine Walter -Lehmann und ein Herr Balthaus dümmlich um Kopf und Kragen geredet haben, wobei ihnen eine Art „Unzurechnungsfähigkeit“ eingeräumt wurde. Allerdings war mein erster Gedanke beim Lesen dieser Seite: „Ich kündige.“ Die Verlogenheit dieses Schreibens, die in jenen pamphletartigen „Ich bin aufrecht, gut und fromm, und mir könnte das nie passieren“ gipfelt in dem Absatz: “... Das Kokettieren mit Ressentiments und Rassismen, die man täglich in jeder Kneipe hören kann, nicht in der Zeitung haben zu wollen - und zwar im Wortsinne NICHT, nicht zweimal, nicht einmal, nicht als Ausrutscher, nicht als Versehen, sondern eben NICHT ...“, ist nicht nur unglaublich geschwätzig, sondern auch noch von hohlem, selbstgefälligem Pathos, das mir mehr Bauchschmerzen macht als alle Kapielskis. Die Bauchschmerzen rühren daher, daß sich in ihnen der brave, kopfnickende Kleinbürger verbirgt, der froh ist, auf der „guten“ Seite zu stehen. Darauf sind wir stolz, daß wir etwas gefunden haben, was wir auf die Fahne unseres zerrissenen Ladens schreiben können: „Auf keinen Fall Wortspiele, die auch nur im entferntesten antisemitisch ausgelegt werden könnten.“

Der jüdische Autor und Regisseur Thomas Brasch sagte auf meine Frage, ob ihn einer der beiden Sätze Kapielskis persönlich beleidigt habe, man könne sich darüber streiten, ob „gaskammervoll“ eine gelungene Metapher sei, aber „verletzt? - nee, da müßte ich mich ja bei jedem Buch von Handke oder Botho Strauss umbringen“.

Wenn Klaus Hartung seiner Betroffenheit Ausdruck gibt und erwähnt, daß seine Eltern Nazifreunde waren, kann ich verstehen, daß ihn das, als „Täter„-Kind, besonders trifft. Die Frage ist allerdings, welches Leid sich so mancher gerne überstülpt, wenn bei solchen Auseinandersetzungen sofort geheult wird. Dieses Weinen ist mir ebenso unangehehm wie die Beteuerungen der Eltern von früheren Freunden, sie hätten auch schon mal einen Juden versteckt.

„Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe“, sagte mein Vater immer, und nach diesem Motto erteile ich mir höchstselbst die Erlaubnis, wem trotziges Tabu-Gebreche gestattet sein darf. Wenn ein jüdischer Mann, der seine Kindheit im KZ verbracht und seine Eltern dort verloren hat, zu seiner Frau sagt, als sie ihn bittet, ans Telefon zu gehen: „Ach nein, geh du, ich mußte auch immer im KZ ans Telefon gehn, wenn die Wärter Fernsehn guckten“, dann darf er das - und niemals ein Goi!

Wahrscheinlich gibt es keinen adäquaten stilistischen Ausdruck für das, was in Deutschland geschehen ist. Wenn jemand bei jeder Ungerechtigkeit pathetisch reagiert, dann wird er es auch in diesem Falle tun; wenn jemand mit Zyne und Satire seine Schmerzen über die Welt ausdrückt, wird er es auch bei diesem Thema tun. Es bleibt in der sehr persönlichen Verantwortung eines jeden, auch und gerade dann, wenn wir „öffentlich“ arbeiten.

Das Geschrei nach „Schreibverbot“ (welch albernes Wort!) und Entlassung ist meiner Meinung nach genau der gleichen „Unzulänglichkeit“ zuzuordnen wie die Dämlichkeiten der „Angeklagten“. Was ich mir wünsche, ist eine oder, meinetwegen, hundert Diskussionen über unser Schreiben, unser Verhalten, unser Agieren oder Reagieren, aber ich wehre mich entschieden gegen „redaktionelle Erklärungen“, wie sie am Freitag veröffentlicht wurden. Wie heißt es in einem alten Sprichwort: „Wenn ein Narr einen Stein ins Wasser wirft, können ihn hundert Gescheite nicht herausholen.“