: Descartes‘ Traummaschine
■ Wie werde ich mein eigener Diskjockey im Hirn? - Micky Remann hat ausprobiert, was es mit der Instant-Meditation durch Hirnwellen-Synchronisation auf sich hat
Micky Remann
Vorgestern nacht feierte der Weltgeist mal wieder Jubiläum. Vor 369 Jahren, am 10.November 1619, hatte Rene Descartes einen Traum, und der ging so: Er glaubte, irgendwelche Phantome zu sehen, und fühlte sich durch diese Erscheinung erschreckt. Er glaubte, durch Straßen zu gehen, und war entsetzt, daß er sich auf die linke Seite niederwerfen mußte, um an den Ort zu gelangen, wohin er zu gehen beabsichtigte. Denn an der rechten Seite fühlte er eine große Schwäche und konnte sich nicht aufrecht halten. Beschämt, auf diese Weise gehen zu müssen, machte er eine Anstrengung, um sich aufzurichten, doch da fühlte er einen heftigen Wind. Wie ein Wirbelsturm packte ihn der Wind, so daß er sich drei- oder viermal auf seinem linken Fuß im Kreis herumdrehte. So schwierig war es, vorwärtszu-kommen, daß er bei jedem Schritt glaubte, hinzufallen und immer nur gekrümmt und schwankend gehen konnte. Er erwachte und befürchtete, dies könnte das Werk böser Geister gewesen sein, die ihn verführen wollten. Sogleich drehte er sich auf die rechte Seite, denn auf der linken Seite liegend war Descartes eingeschlafen und hatte jenen Traum gehabt.*
Hätte der Begründer des mittlerweile arg gebeutelten „cartesianischen“, wissenschaftlich mathematischen Weltbildes damals Zugang zu den jüngsten Mind-Machines wie Alpha Stim oder MC2 gehabt, die mit sanfter Elektrostimulierung die Hirnwellen toupieren und auch die rechte undlinke Hirnhälfte miteinander synchronisieren, dann wären dem guten Rationalisten die Dämonen damals vielleicht nicht so sauer aufgestoßen, und überhaupt hätte sich das Abendland den paradigmatischen Umweg über die Dominanz der linken Hirnhälfte womöglich sparen können. Inzwischen wissen wir von der Neurophysiologie, daß links im Hirn die linearen, ratio -technischen Vorgänge abgeheftet werden bis hin zu den militaristisch-reduktionistischen Exzessen, während rechts im Hirn die intuitive, bildliche Wahrnehmung lokalisiert ist bis hin zum somnambulen Wolkenkuckucks-Schleim. Jede Hälfte für sich eine Sackgasse, beide zusammen ein unschlagbares Team.
Descartes hat zum kollektiven Pulsschlag ins linke Hirn unserer Kultur maßgeblich beigesteuert, und so wundert es nicht, daß er sich gestern nacht vor 369 Jahren „auf die linke Seite niederwerfen mußte“ und „an der rechten Seite eine große Schwäche“ spürte, denn diese Seite war ja nun mal seine Stärke nicht. Der Wirbelwind, der die Hirnphysiologie des schlafenden Denkers wie auch nachfolgend die westlichen Archetypen insgesamt packte und zu angestrengten Humpeleien zwang, brachte einiges in Bewegung: Maschinen, Vernunft, Maßstäbe, Progressionen. Doch blieb der ganzen Richtung eine Furcht im Nacken sitzen, die sich auch durch noch so autoritäre Linkshirnigkeit nicht ausräumen ließ: Von den Schatten der rechten Straßenseite in der Traumstadt, die Furcht vor den romantischen Wirbelwinden, vor emotionalen Labyrinthen und ihren organischen Visionen. Sie mußten sich ein paar Jahrhunderte lang unter der Bettdecke der rechten Hirnhälfte mehr verkriechen, als daß sie sich kuscheln durften. Aber sie ließen Descartes eindringlich spüren, was Sache ist im Leben after midnight. So eindringlich, daß der erkennungsdienstliche Cogito-ergo-Summer beim Aufwachen gelobte, zur Jungfrau Maria nach Loretto zu pilgern.
Übrigens fand dieser Traum in Ulm statt, wo der junge Philosoph Descartes im Heer Maximilians von Bayern Dienst tat, also am gleichen schwäbischen Zielort, in den hineinzuinkarnieren sich später auch die Seelen des Flugpioniers Albrecht Berblinger (genannt „Schneider von Ulm“) und Albert Einsteins entschlossen.
Schon am hellichten Tag vor dieser Nacht hatte Descartes gerochen, daß seine Nase in was Enormem steckte. Nach langem Rumzweifeln war er nämlich endlich mit seinen Denkergebnissen zu Potte gekommen und notierte, daß er am 10.November „ganz erfüllt von Begeisterung war und die Grundlagen der herrlichen Wissenschaft gefunden hatte“. Mit solcher Hochstimmung unters Ulmer Federbett gekrochen, beunruhigten ihn die nachfolgenden Traumgesichte um so ärger. Mit dem Hirnschrittmacher
auf du und du
Aber wir sprachen ja von Abhilfe, von den Mind-Machines für die Gehirnwellenreiter des 21.Jahrhunderts, von Geräten, die, obwohl noch formal descartesscher Denkungsart verhaftet, zugleich deren Integration in eine ihrer selbst bewußten Traumwelt markieren.
Ich fuhr nach Heidelberg, zur Firma Brain-Tech GmbH, um am eigenen Hirn auszuprobieren, was es mit diesen Dingern auf sich habe, die die Schlagseite des Hirns und andere selbstverschuldete Beschränkungen per Knopfdruck abschaffen wollen.
Reiche und schöne Menschen sind immer intelligent. Wer sich also den allerorten Furore machenden Maschinen zur Intelligenzerhöhung rechtzeitig anvertraut, dachte ich, muß früher oder später auch reich und schön werden (glücklich war ich ja bereits). Allerdings gab es bei meinem Auto ein kleines Problem mit dem Thermostat und im Umfeld des vorderen linken Rades rumpelte etwas, aber warum sollte es das nicht? Ich stellte mir vor, daß ich den Artikel vielleicht so beginnen könnte:
„Mit dem Hirnschrittmacher auf du und du! Die Geräte mit solch klangvollen Namen wie 'Alpha Stim‘ oder 'MC2‘ sind auf dem Wege, für die heutigen Yuppie-Yogis und Neon-Nonnen das zu sein, was sich mittelalterliche Scholastiker als 'Nürnberger Trichter‘ kreativ visualisiert hatten. Auf Probebohrungen im Kopf - etwa in Höhe des Dritten Auges kann dabei inzwischen verzichtet werden. Mit nichts als ein paar elektro-akustisch-visuellen Impulsen erzeugen die Mind -Machines ein entspannendes Hirngekribbel, das im oberen Bereich des Spektrums liegt, an dessen unterem Ende die Wirkung eines Schädeltreffers von Mike Tyson anzusetzen wäre. Keine schlechte Frequenz in einer Zeit mit einem Geist, der so ziemlich alles unternehmen würde, um high zu werden, ohne Drogen zu nehmen und obendrein sind die zigarettenschachtelgroßen Geräte prima geeignet, sich das Rauchen abzuprogrammieren.“
Sowas macht sich immer gut, dachte ich mit 110km auf der rechten Spur. Nach diesem Opener meines Artikels würde ich dann eine kurze Ortskennzeichnung mit human touch folgen lassen, vorausgesetzt, es wäre dort so, wie ich es mir ausmalte, etwa in der Art von:
„Heidelberg, Panoramastraße 29, Brain-Tech Direktor Lutz Berger - er mischt seinem Tabak immerhin Huflattich-Kräuter bei - bittet uns gutgelant, die Schuhe auszuziehen und eine Tasse schwarzen Kaffee zu trinken, was uns zusammen mit dem Echo einer nieseligen Autobahnfahrt anstandslos in jene Grundnervosität des 20.Jahrhunderts befördert, von der uns die Mind-Machines zu erlösen versprechen. Auf die Idee, es mit Koffeinfreiem zu versuchen, werden wir erst nach einer halben Stunde bioelektrischer Alphawellen-Stimulierung kommen, was deutlich für diese spricht.“ Das Fleisch ist willig,
aber der Geist bleibt wach
Dann würde ich mich natürlich an so ein Gerät anschließen lassen und einen authentischen Erlebnisbericht verfassen. Ich hatte übrigens inzwischen Darmstadt erreicht, wo ich auf die Bergstraßenautobahn einbog. Solange ich auf den Thermostat fixiert war, der mir bedeutete, daß das Auto Fieber hatte, konnte ich das Vorderradsrumpeln ganz gut überhören. Verblüffenderweise war es im Auto warm, obwohl die Heizung gar nicht an war.
„Jetzt geht's los“, würde ich hautnah weiterschreiben, und: „Schon nach einer Minute im 'Alpha-Stim 350‘, der mit den Ohrläppchen verkabelt wird und dort ein brausepulverartiges Blitzen erzeugt, äußern wir die Routine-Beschwerde wie zu Beginn eines jeden Trips: 'Ich spüre nichts.‘ Fünf Minuten später segeln wir in ein seliges Nickerchen, doch halt! Nicht ganz, denn nur das Fleisch ist willig, aber der Geist bleibt wach. Wie beim Einschlafen ohne einzuschlafen. Dann senkt sich zeitloser Gleichmut über Haupt und Glieder, hinterläßt aber keine Details in der Erinnerung und am Ende des Durchlaufs hören wir uns verdutzt ausrufen: 'Hilfe, ich bin entspannt!'“
Ja, so würde ich es wahrscheinlich empfinden. Aber was dann? Ich fand, jetzt müßte sich eine knappe Schilderung des Funktionsprinzips anschließen, gesicherte Fakten, etwas zum Anbiedern bei den Halbseriösen wie:
„Da jede Art von Gehirntätigkeit schwache, wenn auch meßbare elektrische Impulse aussendet, und da bekannt ist, welches Frequenzprofil beispielsweise Wachträume, Tiefenentspannung oder kreative Stimmungen begleitet, induzieren die Mind-Machines die gewünschten Wellen solange, bis beide Hälften des Gehirns auf gleicher Länge mitschwingen. Das war es übrigens auch, was ein obskurer Neurophysiologe des 19.Jahrhunderts, Marx, mit dem Ausspruch meinte, man müsse den Hirnverhältnissen ihre eigene Melodie vorspielen, um sie zum Tanzen zu bringen. Als ausschlaggebend für Lebensfreude und Lernfähigkeit - die beiden sind physikalisch untrennbar - haben sich dabei die überaus famosen Alpha-Wellen zwischen 8 und 13Hz erwiesen.
Das Gehirn! Wir dürfen uns dieses große Sexorgan als ein Lagerhaus von 14 Milliarden Knall- und Feuerwerkskörpern, den Neuronenzellen, vorstellen. Für jede Regung im zentralen Nervensystem, worunter auch gelegentliches Denken fällt, müssen die Feuerwerkskörper in entsprechenden Verbindungen, den Synapsen, gezündet werden. Die Meldeboten, die dabei im Hirn von Rakete zu Rakete rasen, wirken wie Streichhölzer und heißen Neurotransmitter. Bei entsprechendem Wetter verwandeln sie sich in körpereigene Opiate. Nun sind wir während unseres Wachbewußtseins meist mit derart bescheuerten Eindrücken überlastet, daß die Neuro -Streichhölzer, völlig genervt, nicht richtig zum Zünden kommen. Was zur Folge hat, daß anstelle eines ästhetisch -kreativ sprühenden Gedankenfeuers nur irgendwelche dumpfen Rohrkrepierer durch die Neurologie puffen, und über deren Folgen für Schönheit und Reichtum brauchen wir uns hier gar nicht weiter auszulassen, von der Weisheit ganz zu schweigen. Spätestens, wenn wir dann beim Betrachten unserer Hirnströme nur noch dolomitenartiges Gezucke im Beta-Bereich zwischen 14 und 45Hz vorfinden, wissen wir, daß wir erschöpft, wirr und unausstehlich sind, kurz: ein Mensch wie du und ich.
Die Mind-Machines - vermutlich demnächst als 'Relaxman‘ bei Woolworth erhältlich - hüllen einen dagegen in einen Berstschutz aus Turbo-Meditation und Good Vibrations, und es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die Gourmets außergewöhnlicher, wenngleich allgemeinverfügbarer Bewußtseinszustände mit einem Guide Michelin versorgt werden müssen, für den wir uns an dieser Stelle schon mal als Vorkoster zur Verfügung stellen.“ Pragmatische Paradiese:
das Juste-milieu der
Vollentspannung
Okay, nach dem ersten Test in Heidelberg werden wir wohl eine kleine Jause verdient haben. Welche Diät könnte zu Lutz Berger passen? Sagen wir: Vollkornbrot, Miso und fetter Streichkäse. Und dabei wird er verraten, warum er spätestens im Jahre 2002 die Branche gewechselt haben wird: „Die Geräte haben die Tendenz, sich selbst überflüssig zu machen. Je länger du sie benutzt, desto leichter fällt es dir, die angeregten Zustände spontan zu erreichen. Du mußt dich nur erinnern“, wird Lutz Berger sagen, dessen Kompagnon übrigens Werner Pieper ist, graswurzeliger Medien-Experimentator und Odenwälder 'Grüne Kraft'-Verleger, der mit dem Erlös solcher Renner wie dem Scheißbuch und derHacker-Bibel die Kapitaldecke der Brain-Tech GmbH strecken half.
Kurz nach der Abfahrt Bensheim erschien es mir notwendig, auch noch ein richtiges wissenschaftliches Paper in meine Reportage einzubauen, das sähe dann nämlich nach guter Recherche aus, obwohl es Lutz Berger war, der mir diese Studie der Doktoren Richard Madden und Daniel Kirsch aus Los Angeles zugeschickt hatte. Die hatten zwei Testgruppen im Doppelblindverfahren ein Computerspiel lernen lassen. Die Gruppe mit dem „Alpha-Stim“ am Ohr erzielte deutlich bessere Resultate als die ohne.
Links oben auf den Odenwaldhängen machten sich inzwischen die üblichen Burgen breit, links unten am Vorderrad immer heftiger raspelnde Geräusche, aber es wird schon alles gutgehen. Im nächsten Absatz könnte mir dann der „MC2“ übergeschnallt werden.
„Mit Kopfhörern und einer dunklen, innen mit Glühbirnchen bestückten Renn- und Raumfahrerbrille verwandeln wir uns promt in den Prototyp des Neunziger-Jahre-Neuro-Punk. Alphadynamisch subversiv, dein Zellennachbar im globalen Hirn, die elektronischen und neurologischen Schaltkreise unentwirrbar miteinander verflochten. Adieu, schönes Body -Building-Center mit den proteinstrotzenden Muskelblähungen der achtziger Jahre, willkommen zum Mind-Building für den zukunftstrotzenden Alpha-Bizeps. Hereinspaziert in denGehirnwaschsalon gleich bei dir um die Ecke, wo neulich die Spiel-o-thek Pleite gemacht hat. Wenn auf die Hygiene aller anderen Körperteile so viel Wert gelegt wird, warum sollen ausgerechnet die Gehirnwindungen verschmuddelt und versmogt bleiben? Außerdem, wenn schon Big Brother, dann doch am besten mit einem selbst als D.J. Also geben wir auf der Taschenrechner-Tastatur des MC2 das Programm 8 ein: 'Lern-, Tiefenspannungs- und Meditations-Session, 45 Minuten.‘ Sofort glimmern die Lämpchen eine rasante Karussell-Lightshow auf die geschlossenen Augenlider, untermalt von elektronischem Oszillations-Stakkato aus den Kopfhörern. Nicht unangenehm, aber unerklärlich. Nachdem wir den Versuch, die rhythmische Logik zu durchschauen, aufgegeben haben, lassen wir die Maschine flickern und tickern, wie sie eben will, denn erstens, was will man machen? Und zweitens ist das die Voraussetzung zur Synchronisation von rechter und linker Hirnhälfte, also die Ehe von Logik und Assoziation, Sciene and Hallucination, ohne die in der Zukunft sowieso 'rien ne va plus‘.
Fazit nach einer Dreiviertelstunde MC2: Wir entsteigen wohlbefindlich dem mentalen Bade, unsere neurologischen Bodenwellen sind homogenisiert, unsere Aura ist gekämmt, gescheitelt und geföhnt, wir fühlen uns fit, flockig und flexibel, weltzugewandt und neutral heiter. Wir sind für jede neu auf uns zukommende Erfahrung bestens gerüstet aber gemacht haben wir keine.
Denn auch, wenn einige Elektro-Esoteriker das anders sehen, wer die Achttausender des Bewußtseins zu erklimmen trachtet, ist bei einem Vipassana-Meditationskurs und/oder mit ethnopharmakologischen Psychedelika nach wie vor besser aufgehoben als bei den Hirnschrittmachern. Zumal es ein Mißverständnis seines bizarren Reichtums wäre, dem Hirn zu unterstellen, alle seine neurologischen Wege führten nach Rom, gleiche Schwingungen bedeuteten gleiche Erlebnisinhalte. Die Mind-Machines, was ihrem breiten Appeal sicher zugute kommt, bereiten kein künstliches, auch kein kunstvolles, sondern ein pragmatisches Paradies, das Juste milieu der Vollentspannung.
Darüber hinaus sind diese Geräte natürlich ein Segen für die Feinschmecker von sophisticated Paranoia. Für die 'pessimistischen Paranoiker‘, weil sie schon immer wußten, daß geheime Verschwörermächte von unsichtbaren Zentralen aus unsere Seelenkerne kolonialisieren, mal brutal, mal subliminal, und daß sie uns jetzt eben auf freiwillige Selbstvergewaltigung mittels Hirnmassage progammiert hätten. Für die 'optimistischen Paranoiker‘, weil jetzt noch ein Werkzeug mehr für die Erhebung unseres unteren Ichs zum höheren Selbst bereitsteht, und daß wir mit den rapide um uns rum schwappenden Lichtwellen nun ein für allemal dem Paradigma von der Welt als Jammertal die Loyalität aufkündigen könnten.“
Punkt. Absatz. Ende. Ein prima Artikel, den ich da schreiben werde! Aber erstmal müßte ich ja nach Heidelberg fahren, um dort tatsächlich das zu erleben, was ich dann so oder so ähnlich zusammenfassen könnte. Je vulkanöser es aus meinem Gefährt rumorte, desto besonnener hätte meine Neurologie darauf reagieren müssen, um der Lage gewachsen zu sein, tat es aber nicht. Es gab da einige ontologische Think -negative-Idiosynkrasien, die sowohl mich als auch mein Auto ihrer Eigenverantwortlichkeit beraubten. Ein Königreich für eine Alpha-Welle! „Descartes, das warst du!“
Vor mir tauchte der Hinweis auf den Parkplatz Fliegwiese (mit WC) auf. Zu diesem Zeitpunkt war ich nahe dran, mit dem Auto eins zu werden. Seine nervösen Betawellen waren auch meine, sein Fieber schüttelte auch mich, wir waren einander ausgeliefert und dann geschah es! Die Phantome saßen im linken Vorderrad und wollten mich auf die linke Autobahnseite niederwerfen, obwohl ich einen Überholvorgang dort gar nicht plante. Bei dem Versuch, den rechten Seitenstreifen anzusteuern, offenbarte das Lenkrad eine große Schwäche, diese Richtung einzuschlagen. Nur mit Mühe konnte ich den Wagen aufrecht halten. Meine vordere linke Radkappe verabschiedete sich in Richtung Grünstreifen, nur um aus dem Radlager Flammen freizugeben, die dem Odenwald entgegenzischten. Der Rückspiegel war ganz weiß von den kreidebleichen Insassen der nachfolgenden Autos.
Da fühlte ich einen heftigen Wind, fast einen Wirbelwind, aber kurz bevor der mich gänzlich erfaßte, trat ich mit dem rechten Fuß drei oder viermal auf die Bremse, um mein Weltbild zum Stehen zu bringen. Es konnte nur noch gekrümmt und schwankend auf den Parkplatz Fliegwiese humpeln, wo ich mir den Schaden an dem zum technischen Symbol abendländisch linker Hirndominanz der letzten 369 Jahre gewordenen Automobil unter dem Ausruf: „Descartes, das warst du!“ in aller Ruhe betrachten konnte. Gerade Descartes, der mit seiner Lehre von den „res extensa“ und „res cogitans“ alle Adern zwischen Materie und Geist abgeklemmt hatte, bis das Universum zu einem abstrakten, toten Ausnahmefall verkommen war, gerade er, der Begründer des knochentrockenen Rigidismus, hatte sich jetzt sein eigenes Schnippchen geschlagen, indem sein Traum und mein Auto sich verkneteten, 369 Jahre danach.
Wobei ich Descartes gegen seine Nachfolger in Schutz nehmen will, denn er war damals noch im Bett geistesgegenwärtig genug, sich, nachdem er auf derlinken Seite so schlecht geträumt hatte, auf die rechte Seite umzudrehen und siehe, sein Traum wurde ein anderer. Wie uns sein Biograph Baillet überliefert, träumte Descartes jetzt, er habe ein ihm unbekanntes, sehr schönes Buch in der Hand, betitelt Corpus Poetarum. Er hielt es für einen großartigen Fund, zudem es ihm so plastisch entgegenstach, daß er im Zweifel war, ob das Gesehene Traum sei, und noch bevor er aufwachte, ging Descartes an die Auslegung des Traumes. Er meinte, das Corpus Poetarum-Buch bezeichne die innige Verbindung der Philosophie mit der Weisheit. Er glaubte - im Traum-, daß man sich nicht darüber wundern solle, wenn man bei den Poeten und selbst bei solchen, die nur törichte Kurzweil treiben, viel ernstere, vernünftigere und besser ausgedrückte Gedanken findet als in den Schriften der philosophischen Gelehrten. „Die Göttlichkeit des Enthusiasmus und die Kraft der Imagination bringen dieses Wunder hervor“, räsonnierte Descartes, ungewiß, ob er träume oder meditiere. Dann erwachte er, wie gesagt, in Ulm, und immer noch auf derrechten Seite liegend.
Das Auto, ein kleiner Talbot, Bj.79, TÜV 7/89, wurde von einer Heidelberger Abschleppfirma kostenlos verschrottet.
* nach A.Baillet, La vie de Monsieur Des-Cartes, 1691, Bd.1, S.81ff.
und unter diesem Druck entsteht präzises und spannendes Musizieren. Die meisten Kompositionen von Simon Jeffes gehen von Spielfiguren aus, auf denen Schlagwerk, Streich- und Zupfindustrumente in effektvoller Staffelung ihre Motive und Kantilenen entwickeln. Das ist nicht angestrengt entworfen und nicht anstrengend zu hören, sondern im besten Sinne musikantisch.
Arthur Honneger: Film Music, CSR Symphony Orchestra (Bratislava), Adriano, Marco Polo CD 8.223134
Carl Davis: The Silents, The London Philharmonic, Carl Davis. Virgin CD VC 7 90785-2
Vermutlich zufällig sind beide CDs zur gleichen Zeit erschienen. Selbst wenn man keine Ahnung hat, wer Honegger, wer Davis ist, weiß man nach Anhören beider Platten: Honegger ist der Komponist, Davis der Filmkomponist. Und das, obwohl Honegger mehr als 40 Filmmusiken geschrieben hat. Die Tradition der Filmmusik hat ihre spezifischen Normen herangebildet und ihre eigenen Versatzstücke. Honegger, der 1955 starb, stellte den Szenen durchkomponierte Musikstücke zur Seite, in denen vor allem innere Monologe gestisch verarbeitet waren. Er illustriert und erzählt intensiv (auf der Platte sind nur Stummfilmmusiken): die Musik könnte ihrerseits anregen, Filme dafür zu drehen. Davis dagegen hat das Nachkriegs -Hollywood, Morricone, Korngold und John Williams im Rücken. Er läßt sich Zeit, bevor er aus der Klangmalerei zur gestischen Aktion kommt - er ist viel besser als die Fertigbau-Komponisten - verfolgt aber oft genug mit dynamischem Überdruck die Überwältigungsstrategie. Neben Carmine Coppola haben beide Komponisten die Musik zu dem vierstündigen Napoleon-Film von Abel Gance geschrieben, Honegger die Originalversion von 1926/27, Voppola und Davis die rekonstruierte Fassung aus dem Anfang der 80er Jahre. Bei aller Ungerechtigkeit, über die dieser Vergleich hinweggeht: von Honegger bekommt man nicht nur die meisten Geschichten, in seiner Musik ist auch am besten Geschichte aufgehoben. Sie ist nicht in einen Film über die 80er Jahre verpflanzbar. Die Honegger-Platte enthält noch die Ouvertüre zu „La Roue“ (1922) und die Suiten „Les Miserables“ (1934) und „Mermoz“ (1943). auf der Davis-Plate befinden sich Auszüge aus den Neukompositionen für „The Crowd“, „Flesh & Devil“, „Show People“, „Broken Blossoms“, „The Wind“, „The Thief of Bagdad“, „The Big Parade“, „Greed“ und „Old Heidelberg“.
Laibach: Let it be. Stumm 58/int 146.845
Fast alle Songs der gleichnamigen Beatles-LP sind hier durch den Wolf gedreht, außer „Let it be“. Aber witzig ist das nicht. Denn das ist kein realistischer Kommentar zu den verlorenen Illusionen der Beatles-Generation, wie in der „Money„-Version der Flying Lizards; das hört sich eher wie ein Racheakt an denen an, die die Platte kaufen, weil sie dem Original einmal verbunden waren. „Get back“ ist nach gewohnter Laibach-Manier in martialische Töne übersetzt, für „Across the Universe“ haben sie den Opus Dei Chor angestellt, der das kitschige Stück nach Schülerart herunterseiert, „I've got a Feeling“ wird zum schlachtruf verwandelt und „Maggie Mae“, das alte Volkslied aus Liverpool, wurde ersetzt durch „Auf der Lüneburger Heide“ und „Was gleicht wohl auf Erden“. Selbst wenn man diese Dummheit übergehen könnte, - was sich da musikalisch abspielt, ist das Langweiligste, was Laibach je veröffentlicht hat.
Gerhard Polt und die Biermösl Blosn, Mood Rec./Zweitausendeins 28 664
Erstaunlich, mit welcher Sicherheit die Gebrüder Well bayerisches Liedgut in gute Lieder verwandeln, also das darin Angelegte aktualisieren, - und nur so läßt sich mit Tradition sinnvoll umgehen. So werden die volkstümlichen Stanzen zum ironischen Kommentar zu den Spottgesängen über die bayerische Weise, Politik zu betreiben, den alpinen Weg, den Katholizismus zum eigenen Nutzen zu betreiben oder die irrfahrt der verseuchten Molke. Beeindruckend der starke dreistimmige Gesang und die sorgfältig ausgeführten Instrumentalteile. Und für alle, die die Biermösl Blosn nur für rechtschaffende Stadlmusikanten halten, gibt es eine Überraschung: die Variationen über das Thema „Carneval di Venezia“, in denen sich Christoph Well als souveräner Trompetenvirtuose erweist, - einfach nur mal so, als wäre das so üblich. Auch Gerhard Polt läuft zur Hochform auf, hält eine furiose Politikerrede, der man nur das Schwadronieren mit Prozentangaben entnehmen kann, und spricht russisch.
Ambitious Lovers: Greed. Virgin 209 177-630
Die „Ambitious Lovers“ sind Arto Lindsay und Peter Scherer, der keyboards und Schlagzeug bedient und der - wie vorher schon „Ambitious Lovers/Envy“ (1984) - „Greed“ auch produziert hat. Wie beim ersten Projekt half eine Reihe prominenter Musiker bei der Realisation. wieder ist Arto Linsay agil und ausdrucksstark, kraftvoll und anrührend lyrisch. Aber auch sonst ist diese Platte der ersten so ähnlich, daß man vermuten muß, die beiden Liebhaber sind mit ihrem Repertoire zufrieden und richten sich jetzt darin ein. Meint Lindsay das, wenn er sind: „I can't help it. I'm the king. Don't be scared kings don't mean a thing“?
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