: Gegen den Muff von vierzig Jahren
■ Vier Ostberliner Oberschüler von der Schule geflogen: Die Diskussion um das DDR-Bildungswesen beginnt
Wieder einmal muß die Evangelische Kirche in der DDR Vermittler spielen. Diesmal soll sie in Verhandlungen mit dem Staat erreichen, daß vier relegierte Schüler wieder in ihre Klassen zurück dürfen. Doch die Regierung stellt sich stur, wie Konsistorialpräsident Stolpe am Sonntag abend während einer Ostberliner Informationsveranstaltung bekanntgab. Der Grund: Während die Kirche bewußt nur über die Einzelfälle verhandelt, fordern Oppositionsgruppen schon offen die Demokratisierung des gesamten DDR -Bildungssystems.
Anfang September schrieb die 15jährige DDR-Bürgerin Annett Gärtner einen Leserbrief an die 'Junge Welt‘, Zentralorgan der Freien Deutschen Jugend. Die Redaktion hatte gerfragt: „Wofür willst du dich in der FDJ einsetzen?“, und Annetts Antwort, die am 18.September abgedruckt wurde, lautete: „Mehr öffentlich über das reden, was uns bewegt.“ Und weiter: „Wir haben die Idee, in unserer Schule einen 'Club der Kritik‘ zu gründen. An einer Wäscheleine, quer durch den Schulflur gespannt, kann jeder seinen Zettel mit Vorschlägen, Kritik und Lob hängen, anonym oder mit Namen. Keine Meckerecke soll das werden; eher so eine Art Forum, um miteinander und mit den Lehrern ins Gespräch zu kommen.“
Daß solche - wenn auch verhaltene - Glasnost-Propaganda in den Spalten des offiziellen FDJ-Blattes neuerdings zugelassen wird, lasen viele SchülerInnen der Ostberliner Carl-von-Ossietzky-Oberschule gern. Denn auch in dem Pankower Gymnasium in der Nähe des Villenviertels Wandlitz, das viele Funktionärstöchter und -söhne besuchen, wurde seit dem Spätsommer ein bißchen Demokratie gewagt. An einer sogenannten Speakers Corner durften die SchülerInnen Texte anheften, ohne sie vorher genehmigen zu lassen. Das Angebot zur öffentlichen Diskussion wurde ernstgenommen: Ein sachlich formulierter und mit Zitaten der DDR -Nachrichtenagentur 'adn‘ gespickter Artikel über gesellschaftliche Auseinandersetzungen in Polen hing dort plötzlich und wurde zum Pausenthema. Wenig später heftete ein Schüler eine Polemik gegen die zum 40.DDR-Geburtstag anstehenden Militärparaden an die Wand. 37 PennälerInnen setzten ihre Unterschrift unter das Papier.
Daß ein Gedicht eines realsozialistischen Lohnlyrikers von einigen Schülern als „waffenverherrlichend“ bezeichnet wird, brachte das Glas Nost an der Ossietzky-Schule, wo auch der Sohn des Politbüromitglieds Egon Krenz Vokabeln büffelt, schließlich zum Überlaufen: Mehrere Schüler wurden einzeln aus dem Unterricht geholt und „in scharfer Form“ befragt. Zwei den Schülern unbekannte Personen protokollierten die Aussagen. Dann geht alles sehr schnell. Die verdächtigen NutzerInnen der Speakers Corner werden aus der FDJ ausgeschlossen. 30 UnterzeichnerInnen des Anti -Militärparaden-Aufrufs ziehen ihre Unterschrift nach „Gesprächen“ mit Funktionären und Schulleitung wieder zurück. Am 30.September wird eine außerordentliche Schulversammlung veranstaltet. Vier Schülern - Kai, Philipp, Katja und Benjamin - wird erklärt, daß gegen sie ein Relegierungsverfahren eingeleitet worden ist. Das bedeutet: kein Abitur, kein Studium. Vier weitere werden an andere Schulen versetzt beziehungsweise getadelt. Einer sagt laut, daß er sich „für diese Schule schämt“. Dann könne er ja auch gehen, antwortet der Direktor.
„Ich habe mehr Einsicht als alle meine Lehrer, denn über Deine (Gottes, d.Red.) Mahnungen sinne ich nach“, rezitieren über 600 KirchenbesucherInnen der Ostberliner Erlöser -Gemeinde gemeinsam im Sprechgesang am Sonntag abend den 119.Psalm des Alten Testaments. Worauf mit dem Bibelvers angespielt wird, ist hier jedem klar. Die Kirchenleitung der DDR-Hauptstadt hat sich - auf Wunsch von vier betroffenen SchülerInnen - in den Konflikt an der Ossietzky-Schule eingeschaltet. Mit großer Spannung wird nun das Ergebnis der Gespräche zwischen Staat und Kirche erwartet. Doch das, was Konsistorialpräsident Manfred Stolpe von der Kanzel mitzuteilen hat, ist keine frohe Botschaft.
Für die Auseinandersetzungen in dieser Frage werde man noch einen langen Atem brauchen erklärt er gleich zu Anfang. „Ich bin jetzt fast auf den Tag genau 27 Jahre beauftragt, für die Kirche Verhandlungen mit Staatsorganen zu führen. Ich habe ganz selten - in den letzten zehn Jahren überhaupt nicht mehr - eine Situation angetroffen, die mir so viele Rätsel aufgegeben hat, in der ich soviel Härte gespürt habe, wie jetzt in diesen eigentlich doch ganz harmlosen Fällen.“ Bisher habe man in solch personellen Schulfragen immer zu einer Verständigung kommen können. Doch diesmal mache das Ministerium für Volksbildung dicht. „Die Relegierungen werden vom Staat offenbar im Zusammenhang mit den Fragen gesehen, die die Kirche an das Bildungswesen der DDR hat. In Gesprächen ist zum Ausdruck gekommen, daß man das Empfinden hätte, hier solle die Volksbildung erpreßt werden, mit der Kirche ins Gespräch zu kommen“ - so gibt Stolpe die Argumente des Ministeriums wieder. Das Gegenargument der Kirche, es gehe ihr hier ausschließlich um die Einzelfälle, werde nicht akzeptiert.
Die Paranoia der SED-Oberfunktionäre, das Bildungsmonopol des Staates solle zur Diskussion gestellt werden, ist nicht ganz unbegründet. Das wollen aber nicht die Kirchen als Institutionen, sondern viele Initiativen und Basisgruppen in der DDR. Während die Kirchenleitung sich zwar eine „gesamtgesellschaftliche Diskussion“ um Bildungspolitik wünscht, ansonsten aber „gezielte Einzelschritte“, die sich an den persönlichen Schiksalen der Betroffenen orientieren, für sinnvoller als Gruppenproteste hält, hat die Bürgerrechtsbewegung der DDR das Thema „Volksbildung“ auf ihre Fahnen geschrieben. In einer von mehr als 25 Basisgruppen in der DDR getragenen Erklärung, die am Sonntag in der Kirche vorgetragen wurde, riefen die Oppositionsgruppen dazu auf, „sich mit der generellen Situation unseres Erziehungs- und Bildungswesens auseinanderzusetzen“. Neue Bildungspläne müßten her, mehr Kreativität und Eigeninitiative sei erforderlich. „Die Demokratisierung der Bildungs- und Erziehungseinrichtungen ist zu gewährleisten durch die Wählbarkeit von Direktoren und Lehrern, durch das Mitbestimmungsrecht von Schüler- und Studentenräten.“
Genau diese Diskussion macht die Relegierung der „vier von Pankow“ zu einem republikweiten Thema. Daß Schüler in der DDR von der Penne fliegen, ist nichts Neues - die Brisanz steckt in der Forderung nach Glasnost im Bildungswesen. Am nächsten Sonntag sollen - dazu riefen die Oppositionsgruppen am Sonntag in der Kirche auf - in der ganzen DDR Protestaktionen stattfinden.
Ob diese Aktionsaufrufe eine ähnliche Mobilisierungskraft entfalten wie die Proteste im Februar nach der Ausbürgerung von Krawczyk und Klier, ist allerdings fraglich. Viele KritikerInnen schwanken mittlerweile zwischen Desillusionierung und Resignation. „Den 'Sputnik‘ haben die gerade verboten, und Ceausescu kriegt den Karl-Marx-Orden. Wir sind doch die nächsten, die dran sind!“ meint das Mitglied einer Öko-Basisgruppe zur taz. Und ein anderer zeigt mit dem Finger auf das schwarze Brett eines Jugendclubs, wo die Kurzmeldung des 'Neuen Deutschlands‘ über das Einfuhrverbot der sowjetischen Zeitschrift mit 180.000 Lesern in der DDR aushängt: „Selbst so einen Artikel aus dem 'ND‘ aufzuhängen ist doch schon verdächtig.“
Stefan Schönert
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